von Oliver Hirschfeld, Eva Schultheis und Marion Teichmann-Stolf
Am 7. September 2025 wurden in Kaiserslautern in der Eisenbahnstraße 4a, an der Stelle, an der das im Krieg zerstörte Haus Nr. 4 b stand, sechs Stolpersteine gelegt für
- Richard Hirschfeld, seine Frau,
- Gertrud Hirschfeld, geborene Unkelbach und ihre Kinder,
- Fritz Hirschfeld,
- Ilse Hirschfeld, verheiratete Schultheis,
- Johanna Hirschfeld, verheiratete Teichmann und
- Gerd Hirschfeld
Richard Hirschfeld wurde am 10. Juni 1889 in Limbach (Sachsen) als Sohn von Isidor Hirschfeld und Bertha, geborene Behmack geboren.
Er wuchs in Speyer auf, wo seine Eltern das Textilkaufhaus Wronker betrieben.

Privatfoto Familie Hirschfeld
Vor dem 1. Weltkrieg, im Januar 1914, zog die Familie nach Kaiserslautern. Ab dem 16. Oktober 1919 war sie in der Eisenbahnstraße 19 gemeldet. Richards Vater Isidor hatte in der Marktstraße 46 – 48 das Textilkaufhaus Rehfeld übernommen (Verkauf von Kurz-, Weiß- und Wollwaren). Dort befand sich zu dieser Zeit auch das beliebte Café Käfer.
Leben in Kaiserslautern
Richard Hirschfeld war als junger Mann für eine Werkzeugfabrik aus Hagen in Westfalen als Auslandsreisender tätig. Dort lernte er beim Spanischunterricht seine spätere Frau Gertrud Unkelbach kennen, geboren am 9. Juni 1900 in Düsseldorf.

Privatfotos Familie Hirschfeld
Nach der Heirat am 13. Mai 1922 lebten sie in Kaiserslautern.
Hier wurde am 2. September 1922 ihr Sohn Fritz als erstes Kind geboren. Ihm folgten die Töchter Ilse am 9. Februar 1927 und Johanna am 17. Januar 1929. Sohn Gerd wurde am 20. April 1931 geboren.

undatiertes Foto/ Stadtarchiv Kaiserslautern
Ab dem 16. Februar 1926 wohnten sie in der Eisenbahnstraße 4 b. Das Haus gehörte der jüdischen Familie von Theodor Strauß, für die 2020 fünf Stolpersteine verlegt worden waren.

Privatfotos Familie Hirschfeld
Alle Kinder wurden im jüdischen Glauben erzogen. Das war nicht selbstverständlich, da ihre Mutter katholisch war und blieb. Nach dem jüdischen Religionsgesetz gelten nur die Kinder einer jüdischen Mutter als jüdisch. Dennoch wuchsen die Kinder im jüdischen Glauben auf und Fritz Hirschfeld konnte in Kaiserslautern noch seine Bar Mizwa begehen, die Feier der religiösen Mündig-werdung. Als sogenannter „Minjen-Mann“ half er, die umliegenden kleineren Landgemeinden auf die für einen vollständigen Gottesdienst erforderliche Stärke von 10 religionsmündigen Männern zu bringen (den „Minjan“).
Zu Beginn der NS-Zeit
Inzwischen bereiste Richard Hirschfeld als Vertreter verschiedener Konfektionsfabriken die Pfalz und das Saargebiet. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 verlor er aufgrund der Hetzpropaganda bei verschiedenen Kunden eine Vertretung nach der anderen.
Während seine Schwestern weiterhin in Kaiserslautern die Röhm-Schule besuchten, musste Fritz Hirschfeld die Stadt bereits 1936 verlassen. Seine bis dahin wegen herausragender Leistungen gewährte Schulgeldermäßigung von 20,– RM auf 8,– RM wurde wegen seiner jüdischen Herkunft gestrichen und seine Eltern waren mit ihrem drastisch gesunkenen Einkommen nicht mehr in der Lage, diese 20,– RM aufzubringen. Er ging deshalb zu einem Onkel nach Torgau, um dort das Zahntechnikerhandwerk zu erlernen.
November 1938
Die anderen Mitglieder der Familie Hirschfeld blieben bis zum 9. November 1938 in Kaisers-lautern. Dort wurde in der sogenannten „Reichskristallnacht“ ihre Wohnung von SS-Leuten überfallen. Richard Hirschfeld wurde verhaftet und in das KZ Dachau deportiert. Das Mobiliar wurde zerstört und als Gertrud Hirschfeld ihrem Missfallen darüber deutlichen Ausdruck verlieh, wurde sie von den SS-Leuten verprügelt.
Vertreibung aus Kaiserslautern – Zuflucht in Hagen
Aufgrund eines Erlasses des damaligen Gauleiters der Saarpfalz, Josef Bürckel, wurden alle Juden aus der Saarpfalz ausgewiesen und mussten diese innerhalb von 48 Stunden verlassen. Die 11, 9 und 7 Jahre alten Kinder Ilse, Johanna und Gerd fuhren allein im Nachtzug nach Hagen, ihre Mutter folgte nach Wohnungsauflösung und Erledigung einiger Verwaltungsfragen einige Tage später.
Die Familie fand Aufnahme in Hagen in Westfalen, wo die Verwandtschaft von Gertrud Hirschfeld lebte. Am 11. Dezember 1938 wurde Richard Hirschfeld aus dem KZ Dachau entlassen und begab sich ebenfalls nach Hagen.
Auch Fritz Hirschfeld traf im März 1939 in Hagen ein. Zuvor hatte er noch seinen Onkel von Torgau aus nach Hamburg begleitet. Dort bestieg dieser ein Schiff nach Paraguay. Er hatte noch ein Visum für Paraguay erhalten, da seine bereits früher dorthin emigrierten Verwandten ihm schon vor längerer Zeit eine formelle Einladung („Llamada“) hatten zukommen lassen. Fritz Hirschfeld blieb dieser Weg versperrt, da zwischenzeitlich Paraguay wie viele andere Länder auch keine Juden mehr aufnehmen wollte.
Ab Frühjahr 1939 besuchte Fritz Hirschfeld eine von der jüdischen Gemeinde Dortmund eingerichtete Lehrwerkstatt, um eine sogenannte Schreinervorlehre zu absolvieren – eine reguläre Lehre mit abschließender Gesellenprüfung war für Juden ausgeschlossen. Die Werkstatt wurde auch nach Kriegsausbruch noch eine Zeitlang weitergeführt. Sein Ausbilder, ein jüdischer Schreinermeister, wurde später nach Riga ins dortige Ghetto deportiert. Fritz nahm im Laufe des Jahres 1940 in Hagen eine Stelle als Hilfsarbeiter in einer Schreinerei an. Auf diese Weise konnte er einer schon verfügten Tätigkeit als Tiefbauarbeiter entgehen, was die Alternative gewesen wäre. Durch Vermittlung eines katholischen Vikars konnte er einige Zeit danach bei einem Schreinermeister arbeiten, bis er dann in das der Gestapo unterstehende Arbeitslager für jüdische Mischlinge eingeliefert wurde.
Ab Anfang 1939 gingen Ilse, Johanna und Gerd in die jüdische Schule in der Potthofstraße in Hagen.
Verfolgung in Hagen – Überlebensstrategien
Mit Kriegsbeginn im September 1939 litt auch Familie Hirschfeld zunehmend unter den gegen die jüdische Bevölkerung gerichteten Verfolgungsmaßnahmen. So musste Gertrud Hirschfeld das Textilgeschäft, das sie in Hagen anmeldete, unter ihrem Namen betreiben, da ihr jüdischer Mann Richard dies nicht durfte – selbst das Betreten des Geschäftes war ihm verboten.
Ab 1939 wurde er der Fa. Paul Anke, ein Tiefbauunternehmen in Hagen, zugeteilt. Von dort an das Edelstahlwerk Harkort-Eicken vermietet, bestand seine Arbeit aus dem Be- und Entladen von Güterwaggons und in der Siliziumverarbeitung. Ab 1941 durfte er bei der Fa. Anke Büroarbeit übernehmen. In dieser Zeit war es ihm möglich, bei seiner Familie in Hagen zu leben.
Für die vier Geschwister Fritz, Ilse, Johanna und Gerd ergab sich im April 1940 die Möglichkeit, sich katholisch taufen zu lassen. Der Vikar, der die Taufe vornahm, setzte sich damit selbst der Gefahr staatspolizeilicher Verfolgungsmaßnahmen aus. Denn diese Taufe erfolgte Jahre nach dem Erlass der „Nürnberger Gesetze“ vom September 1935. Diesen zufolge waren die Geschwister sogenannte „Geltungsjuden“, weil sie jüdisch aufgewachsen waren. Sie mussten die Zusatznamen Israel und Sara tragen und ihre Kennkarten wurden mit dem Zusatz „J“ ebenso versehen wie auch alle anderen Ausweise wie Arbeitsbuch, Wehrpass etc. Damit hätten die Kinder ebenso wie ihr Vater den gelben Judenstern tragen müssen. Sie taten das jedoch nicht, sondern betrachteten sich – wider besseres Wissen – als sogenannte „privilegierte Mischlinge 1. Grades“ (das waren die im christlichen Glauben aufgewachsenen Personen mit einem jüdischen Elternteil). Es gelang den Geschwistern, diese Gratwanderung bis zum Kriegsende durchzuhalten. Einerseits bewahrte sie sie vor der Deportation in ein Vernichtungslager, andererseits hätte sie bei Aufdeckung durch die Gestapo den sicheren Tod bedeutet.

Von links nach rechts: Johanna, Fritz, Gerd, Ilse.
Privatfoto Familie Hirschfeld
Ilse verließ nach dem achten Schuljahr 1941 die Schule und ging nach Laer im Kreis Steinfurt in Nordrhein-Westfalen, um dort beim Bauern Niehaus ihr Pflichtjahr zu machen. Sie blieb nach Abschluss des Pflichtjahres als Landwirtschaftsgehilfin auf dem Bauernhof.
1942 wurde die jüdische Schule in Hagen geschlossen.
Mit 14 Jahren (am 14.04.1943) trat Johanna ihren Dienst bei Bauer Niehaus in Laer als “Pflichtjahrmädchen” an.
Auch Bruder Gerd fand Aufnahme auf dem Bauernhof. Seine Mutter hatte erreicht, dass er in Laer zur Schule gehen konnte. Im Oktober in den Herbstferien fuhr er nach Hagen und erlebte den ersten Bombenangriff auf Hagen, bei dem die Familie total ausgebombt wurde.
Gertrud Hirschfeld war hochschwanger und musste in diesem Zustand durch einen Durchbruch aus dem Keller ins Freie klettern. Sie kam dann mit Gerd zusammen nach Laer. Dort wurde am 19.10.1943 Peter Michael geboren. Er verstarb nach einem Monat.
Als Gertrud Hirschfeld durch Vermittlung eine Wohnung in der Volmestraße in Hagen bekam, ging sie nach Hagen zurück.
Zwischenzeitlich, am 13.Mai 1943, seinem Hochzeitstag, war Richard Hirschfeld in ein Arbeitslager in Kamen verlegt worden, wo er im Strassenbahnbau arbeiten musste. 1944, zusammen mit seinen Leidensgenossen nach Iserlohn verlegt, diente ein ausrangierter Omnibus als Unterkunft, bis er im Oktober in das Lager Weissensee bei Halle an der Saale verlegt wurde.
Johanna kam nach Beendigung ihres Pflichtjahres im April 1944 wieder nach Hagen zurück. Durch Vermittlung ihrer Großmutter erhielt sie ab dem 14. April einen Ausbildungsplatz bei der Firma Lumme, Textilwaren.
Ilse und Gerd blieben weiterhin in Laer, Ilse arbeitete auf dem Bauernhof und Gerd ging zur Schule. 1944 erfuhr Richard, dass er in das Konzentrationslager Theresienstadt im heutigen Tschechien deportiert werden sollte. Er entzog sich dieser Deportation durch Flucht. Es gelang ihm, sich nach Hagen zu seiner Frau durchzuschlagen. Diese versteckte ihn in einer Dachwohnung bis zum Kriegsende. Selbst wiederholte Verhöre der Gestapo konnten sie nicht dazu bringen, das Versteck ihres Mannes zu verraten.
Gerd Hirschfeld berichtete 1972 anlässlich der Goldenen Hochzeit seiner Eltern, was sein Vater in dieser Zeit erlebte:
„Nach einem Krankenhausaufenthalt in der Universitätsklinik von Halle wurde er (Richard Hirschfeld) als geheilt, aber noch nicht arbeitsfähig entlassen, er hatte noch acht Tage Schonzeit. Diese Zeit benutzte er nun, ohne Wissen der Gestapo nach Hagen zu fahren. Als er zurückkam, merkte er, dass er aufgefallen war und saß bereits am nächsten Tag wieder im Zug. Zuerst schlüpfte er bei Frau Klara Wagner, einer Kundin, unter, dann hielt er sich einige Zeit bei Frau Kukurutz verborgen. Da er merkte, dass die arme Frau fast umkam vor Angst, fuhr er weiter nach Laer. Natürlich ging das nicht alles so glatt, sondern einige Papiere mussten gefälscht werden. Von Laer aus nahm er mit meiner Mutter in Hagen Kontakt auf und als er hörte, dass er dort (zu dem Zeitpunkt) nicht von der Gestapo gesucht wurde, fuhr er nach Hagen, wo er sich nicht aus der Wohnung rühren und bei Angriffen auch nicht in den Bunker gehen konnte. Am 15.März war der letzte und grösste Angriff auf Hagen, der die Innenstadt restlos ausradierte und auch unsere Notwohnung in der Volmestraße“.
Zwangsarbeit
Fritz, Ilse und Johanna Hirschfeld wurden noch 1944 in ein der Gestapo unterstelltes Arbeitslager auf dem Gelände des Hagener Klöckner-Stahlwerks eingewiesen und mussten in diesem Werk auch Dienst tun.

Privatfoto Familie Hirschfeld
Sie wurden durch den Einmarsch amerikanischer Truppen am 13. April 1945 befreit. Erst Jahre später erfuhren sie, dass die Gestapo geplant hatte, alle Häftlinge des Lagers noch kurz vor Kriegsende durch die Einleitung von Gas in ihre Unterkunftsbaracken zu töten. Dieser Plan war nur durch den Einmarsch der Amerikaner vereitelt worden.
Neben diesem Arbeitslager, nur durch einen Drahtzaun abgetrennt, waren russische Kriegsgefangene untergebracht. Diese wurden noch deutlich schlechter behandelt als die sogenannten „Halbjuden“. Sie mussten hungern und wurden kaum versorgt. Ilse steckte ihnen ab und zu Brot durch den Zaun, während ihre Schwester Johanna Schmiere stand. Wenn sie erwischt worden wären, wären sie aufs härteste bestraft worden. Als das Lager nach dem Krieg aufgelöst wurde, hat einer der russischen Kriegsgefangenen Ilse diese von ihm selbstgemachte Brosche, die er aus einem 5 Mark Stück gefertigt hatte, aus Dankbarkeit geschenkt.

Gerd blieb bis zum Kriegsende in Laer auf dem Bauernhof Niehaus.

Privatfotos Familie Hirschfeld
Die Eltern nach dem Krieg
Eine Rückkehr der Familie Hirschfeld nach Kaiserslautern kam nicht mehr in Betracht. Richard Hirschfeld baute in Hagen das Textilgeschäft wieder auf, das bis in die jüngere Vergangenheit den Namen seiner Frau Gertrud trug.

Privatfoto Familie Schultheis
Richard Hirschfeld begründete nach dem Krieg die jüdische Gemeinde in Hagen neu. Die Gottesdienste fanden bis zur Errichtung der neuen Synagoge in der Wohnung der Familie Hirschfeld statt.

Richard leitete die Gemeinde als Vorsitzender bis zu seinem Tod im Jahr 1977.

Privatfotos Familie Hirschfeld
Fritz nutzte die Möglichkeit, gemeinsam mit sogenannten „Spätheimkehrern“ sein Abitur nachzuholen. Nach einem Philologie-Studium wurde er Lehrer für Französisch und Deutsch.

Privatfoto Familie Hirschfeld
Ilse half im Textilgeschäft Gertrud Hirschfeld mit, machte 1947 ihren Führerschein und war seitdem als Fahrerin insbesondere bei Einkaufsfahrten im gesamten Umland für das Geschäft tätig. Mit ihrem Mann Jochen Schultheis, den sie 1950 kennenlernte, bekam sie fünf Kinder, um deren Erziehung sie sich intensiv kümmerte.

Privatfoto Familie Hirschfeld
Johanna hatte 1948 ihre Ausbildung als Einzel- handelskauffrau beendet. Sie lernte ihren Mann Max Teichmann Mitte der 50iger Jahre über die jüdische Gemeinde in Hagen kennen. Sie bekamen zwei Töchter.
Max starb im Januar 1961. Mit den im Arbeitslager sowie in der Pfarrgemeinde gefundenen Freundinnen blieb sie bis ins hohe Alter eng verbunden.

Privatfoto Familie Hirschfeld
Gerd absolvierte nach dem Krieg eine Ausbildung zum Großhandelskaufmann.
Johanna und Gerd betrieben bis ins Rentenalter das von ihrem Vater übernommene Textilgeschäft.

Privatfoto Familie Hirschfeld
Während seiner Lehrzeit verschlug es Gerd Hirschfeld als Einzigen aus der Familie noch einmal für eine Zeitlang in die Pfalz – allerdings nicht nach Kaiserslautern, sondern nach Neustadt an der Weinstraße, wo ihn seine Geschwister oft besuchten.
Fritz ist 1998 durch einen Übertritt („Giur“) offiziell zum Judentum zurückgekehrt. Er war bis zu seinem Tod Mitglied der jüdischen Gemeinde Hagen.

Foto: Jürgen Hoffmann-Biundo (Ausschnitt)
Er fühlte sich seiner Geburtsstadt Kaiserslautern und wie auch sein Vater Richard insbesondere dem „1. FCK“ immer besonders verbunden.
Alle vier Kinder blieben in Hagen, wo auch die 8 Enkelkinder von Richard und Gertrud aufwuchsen.

Von links nach rechts: Gerd, Johanna, Ilse, Fritz.
Privatfoto Familie Hirschfeld
Quellen:
- Aufzeichnungen von Fritz Hirschfeld, Gerd Hirschfeld und Johanna Teichmann
- Mündliche Überlieferungen von Ilse Schultheis
- Stadtarchiv Kaiserslautern – Melderegister / hist.Foto Eisenbahnstraße 4b
- Adreßbuch Kaiserslautern 1925
