Biografie zu Familie Dr. Paul und Charlotte Tuteur

AM 29. AUGUST 2013 WURDEN IN DER ALLEESTRAßE 10 IN KAISERSLAUTERN VIER STOLPERSTEINE GELEGT
FÜR PAUL, CHARLOTTE, KAROLA UND KLAUS TUTEUR.

Recherche: Christiane Stephani, Kaiserslautern, und Francis de Laveleye, Brüssel

Dr. Paul Tuteur

Paul Tuteur kam am 28. Juli 1881 als achtes und jüngstes Kind der Eheleute Aron Tuteur und Caroline, geborene Nathan, in Kaiserslautern zur Welt. Seine Eltern führten ein Bekleidungsgeschäft in der Fackelstraße 14. Als Schüler besuchte er nach der Grundschulzeit das Humanistische Gymnasium, das heutige Albert-Schweitzer-Gymnasium. Anschließend studierte er nach eigenen Angaben in Berlin, dann aber vor allem in München und Würzburg. Hier absolvierte er 1904 die erste juristische Staatsprüfung. 1905 promovierte er zu dem Thema: „Die Majestätsbeleidigung des deutschen Reichsstrafgesetzbuches“. Nach dem Vorbereitungsdienst für den höheren Justizdienst und der Absolvierung der Großen Staatsprüfung in Regensburg 1907 ließ er sich ab Juni 1908 als Rechtsanwalt in Kaiserslautern nieder.

Die älteren Geschwister von Paul Tuteur zogen nach und nach aus: Arthur war HNO-Arzt in Saarbrücken, Friederike lebte mit dem aus Kaiserslautern stammenden Lederhändler Fritz Becker in Mannheim, Emil Cornelius handelte mit Stoffen in Paris und Berlin. Ella war mit Heyum Hermann Stein verheiratet, der mit seinem Kompagnon, dem aus Kaiserslautern stammenden Joseph Dalsheim, in Frankfurt einen Handel für Galanteriewaren und Puppen betrieb. Johanna hatte den aus Leer stammenden Holzhändler Salomon Rosenberg geheiratet, mit dem sie in Hamburg lebte, und Jakob begründete ein mondänes Modehaus in Berlin. In Kaiserslautern blieb außer Paul lediglich noch Karl Moses, der mit seiner Frau Hilde, geb. Sauer, später das elterliche Geschäft weiterführte. Deshalb lebten die Eltern dann in der Parkstraße 49.

Militärzeit im Ersten Weltkrieg

Wie viele andere Mitglieder der Tuteur-Familie war auch Paul Tuteur als Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen. Vom 6. Mai 1915 bis zum 14. Oktober 1917 diente er zunächst als Landsturmmann und später als Gruppenführer in verschiedenen Bayerischen Infanterie-Regimentern und war im Juni 1916 an den Kämpfen um Styr und Stochod beteiligt, wodurch er als Frontkämpfer eingestuft wurde.

Schicksalsschläge

Gut ein Jahr nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg verstarben die Eltern von Dr. Paul Tuteur, Aron und Caroline Tuteur, kurz hinter einander: der Vater am 21. März und die Mutter in der Nacht vom 2. auf den 3. April 1918. Sie ließen ihre Kinder als „tieftrauernde Hinterbliebene“ zurück, so die Todesanzeige.

Diesem Schicksalsschlag folgte ein Jahr darauf ein weiterer: Dr. Paul Tuteur hatte am 24. Dezember 1918 Helene Wilhelmine Loeb aus Ungstein geheiratet, Tochter des Weinhändlers Albert Loeb und seiner Frau Frieda, geb. Hamburger. Seine junge Frau war kaum drei Monate später nach kurzer Krankheit am 5. März 1919 verstorben. Für sie wurde ein großes Grabmal auf dem jüdischen Friedhof errichtet und Paul Tuteur brauchte sechs Jahre, bis er seine zweite Ehe einging.

Hier ruht unser einziger unvergessener Liebling Frau Helene Wilhelmine Tuteur, geb. Loeb, aus Ungstein, geb. 26. Dez. 1892, gest. 5. März 1919

Familie Paul und Charlotte Tuteur mit Karola und Klaus

Charlotte Alice Tuteur, geb. Metzger, war die am 4. Juli 1902 geborene Tochter des Weinhändlers Alphons und Johanna Metzger aus Landau. Sie war das dritte Kind ihrer Eltern nach ihrem Bruder Robert und ihrer behinderten Schwester Helene. Charlotte Metzger und Dr. Paul Tuteur heiraten am 18. Dezember 1924 in Landau. Sie bekamen die Kinder Karola, geboren am 17. September 1925, und Klaus Adolf, geboren am 5. Juni 1927, und lebten seit dem 13. Februar 1928 im eigenen Haus in der Alleestraße 10, in dem sich auch die Kanzlei von Dr. Paul Tuteur befand. Die Kinder waren am 7. April 1932 bzw. am 17. April 1934 in der Röhmschule eingeschult worden – eine nach dem Stadtratsbeschluss vom 24. September 1875 konfessionsübergreifende Grundschule. Von dort wechselte Karola nach Ostern 1936 in das Mädchenlyceum der Franziskanerinnen. Klaus jedoch musste in der Röhmschule seine ursprüngliche Klassengemeinschaft verlassen und ab dem 1. September 1936 die neu gebildete jüdische Sonderklasse besuchen. Von hier ging er dann ab Ostern 1938 in die Oberrealschule, Morlauterer Straße Ecke Benzinoring, deren Nachfolger das heutige Hohenstaufen-Gymnasium ist.

Klaus Tuteur in der jüdischen Sonderklasse der Röhmschule, 2. Reihe dritter von links
2. Klasse mit Sr. Wilbranda Jessberger, es sind die Mitschülerinnen benannt, die im Poesiealbum eingetragen haben

Dr. Paul Tuteur als Jurist in Kaiserslautern

Dr. Paul Tuteur ging in seiner Arbeit als Rechtsanwalt auf. Er war fachkundig, belesen, verfügte über eine große eigene juristische Bibliothek und hatte so viel Erfolg, dass Kollegen später sagten, eine Tuteur-Kanzlei reiche eigentlich für drei Anwälte aus. Er selbst sagte einmal: „Wer sich zur Rechtsanwaltschaft entschliesst, muss die Berufung dazu in sich fühlen.“[1] Und im Nachruf auf ihn heißt es: „Seine großen anwaltlichen Fähigkeiten und die Lauterkeit seines Charakters sichern ihm bei allen, die ihn kannten, ein ehrendes Gedenken.“[2]

Im Jahr 1933 aber traf die von den Nationalsozialisten betriebene Politik der Ausgrenzung jüdischer Mitbürger auch die Justiz. Am 10. März 1933 wurde allen jüdischen Richtern und Rechtsanwälten das Betreten des Amtsgerichts Kaiserslautern von der SA untersagt, was de facto einem Berufsverbot gleichkam. Am 17. März 1933 lieferte man sie zusammen mit politisch Andersdenkenden ohne Haftbefehl im Gestapo-Gefängnis von Neustadt ein. Dr. Paul Tuteur wurde von hier am 12. April 1933 ins Gefängnis nach Zweibrücken verlegt und kam wenige Tage später wieder nach Kaiserslautern zurück. Er musste jedoch täglich im Polizeipräsidium erscheinen und wurde mehrfach zum „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ befragt, den er unterstützte, der aber 1933 aufgelöst wurde. Juristisch vertrat er auch den „Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ und setzte 1931/1932 eine Geldforderung von 500 RM gegen Gauleiter Josef Bürckel per Gerichtsvollzieher durch.

Während viele jüdische Rechtsanwälte aufgrund des Gesetzes über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft vom 7. April 1933 ihre Zulassung verloren, blieb Dr. Paul Tuteur durch das sogenannte Frontkämpferprivileg davon noch verschont. Dennoch versuchte man nach seiner Rückkehr aus der Haft das Berufsverbot aufrecht zu erhalten, indem man ihm kommunistisches Gedankengut vorwarf. Tatsache war, dass Dr. Paul Tuteur lediglich zweimal Menschen juristisch vertreten hatte, für die die Rote Hilfe die Kosten des Verfahrens übernommen hatte. Erst als sich Dr. Paul Tuteur an das Justizministerium in München gewandt und von dort Unterstützung bekommen hatte, wurde das Berufsverbot gegen ihn am 29. August 1933 aufgehoben.

Dr. Paul Tuteur war nie Mitglied einer Partei, es heißt, er habe der Sozialdemokratie nahe gestanden.

Misshandlung, Zerstörung und Vertreibung im Novemberpogrom 1938

Die Verfolgung erreichte auch für die Tuteurs ihren Höhepunkt im Pogrom vom 10. November 1938. Dr. Paul Tuteur war der erste, den man inhaftierte. Unter Schlägen trieb man ihn in der Nacht von Haus und Hof und brachte ihn in den sogenannten „Bunker“, den Zellen im Keller des Polizeipräsidiums. Am Nachmittag wurde ihm erlaubt nach Hause zu gehen, auf dem Rückweg wurde er aber noch einmal mit Einsatz von Gewalt zur Rückkehr gezwungen und schließlich mit der Auflage entlassen, noch am selben Tag mitsamt seiner Familie Kaiserslautern zu verlassen. Am Morgen war sein Haus verwüstet worden. Augenzeugen berichteten in den Gerichtsverfahren nach dem Krieg, dass die Kinder damals aus dem Haus getrieben worden waren und im Nachthemd auf der Straße herumliefen, während im Haus das Inventar demoliert und die Deckbetten zerrissen wurden, dass die Federn durch die geborstenen Fenster bis auf die Straße flogen.

Vertreibung nach Mannheim

Am Abend des 10. Novembers 1938 verließ Dr. Paul Tuteur den Auflagen folgend mit seiner Familie Kaiserslautern. Erste Anlaufstelle in Mannheim war M7,1 bei Dr. med. Albert und Emma Margarethe Salz, geborene Hostermann. Frau Salz stammte wie Charlotte aus Landau, wahrscheinlich kannten sich die Familien daher. Am 19. November 1938 zogen die Tuteurs in die Lamaystraße 20 zum Ehepaar Hermann Theodor und Emilie Hirsch[3].

Am 29. Dezember 1938 kam Kurt Hartmann nach Mannheim als Beauftragter der Kreisleitung, um von Dr. Paul Tuteur die Unterschrift unter eine Vollmacht zu verlangen, die zum Verkauf des Hauses in der Alleestraße 10 berechtigte. Die jüdischen Männer, die nach der Pogromnacht im Kolonnenbau des DRK inhaftiert gewesen waren, hatten eine solche Vollmacht noch in der Nacht erteilen müssen. Hatte man die Unterschrift noch nicht bekommen, weil zum Beispiel das Haus den Frauen gehörte wie im Fall Marktstraße 50 bei den Familien Strauß und Bender, oder war jemand  wie Dr. Paul Tuteur in der Nacht nicht im Kolonnenbau, dann holte später Kurt Hartmann als Beauftragter der Kreisleitung die Unterschrift unter eine Vollmacht ein. So konnte der gesamte jüdische Grundbesitz in der Stadt Kaiserslautern veräußert werden. Die Gelder landeten auf Sperrkonten, auf die nur mit Zustimmung der Devisenstelle in Ludwigshafen Zugriff möglich war. Mit Verlust der Staatsbürgerschaft – so für die Familie Tuteur am 28. Oktober 1940 – fiel das gesamte Vermögen an das Deutsche Reich.

Wege in die Emigration

Die dauerhaft bedrohliche Lage veranlasste das Ehepaar Charlotte und Paul Tuteur, Wege in die Emigration zu suchen. Für ihre Kinder Karola und Klaus hatten sie am 7. Dezember 1938 eine Einreisebewilligung des belgischen Königreichs bekommen und so machten sich die Kinder am 18. Dezember 1938 auf den Weg nach Belgien. Am 2. Februar 1939 zog das Ehepaar in Mannheim in die Elisabethstraße 7 zu Familie Engel[4]. Kurze Zeit später mussten die Engels und die Tuteurs (28.04.1939) in das Judenhaus in der Großen Merzelgasse 7 umziehen. Aber die Tuteurs hatten Visa für Großbritannien bekommen, wohin sich Paul Tuteur am 21. Mai 1939 auf den Weg machte. Er hatte versucht, einen Zwischenstopp in Belgien bei seinen Kindern zu machen, bekam dafür aber keine Aufenthaltsbewilligung. Seine Frau Charlotte folgte ihrem Mann am 30. Juni 1939 nach und hatte das Glück, ein Durchgangsvisum für Belgien zu bekommen. So konnte sie ihre Kinder auf dem Weg nach Großbritannien besuchen und brachte dabei auch das Poesiealbum von Karola mit. Am 4. Juni 1939, noch in Mannheim, hatte sie für ihre Kinder dort hineingeschrieben:

Ein hartes Geschick hat Euch die Heimat genommen. Ein gütiges Geschick liess Euch edle Menschen finden. Der liebe Gott beschütze Euch fernershin und führe Euch auf dem rechten Weg. Verlasst nie den geraden Weg.  Eure Mutti

Karola und Klaus Tuteur waren nach kurzem Aufenthalt in Brüssel durch das Komitee CAEJR (Comité d’Assistance aux Enfants Juifs Réfugiés) an eine belgische Familie vermittelt worden: Renée und Raymond Wolfers mit den Kindern Jacqueline (*1926), Anne-Marie (*1928), Martine (*1929) und Guy (*1931), die in Overijse/La Hulpe Wolferslaan 9 lebten.

Karola Tuteur bei ihrer Aufnahme in der Gemeinde Overijsche/La Hulpe, Belgien
Klaus Tuteur bei seiner Aufnahme in der Gemeinde Overijsche/La Hulpe, Belgien
o:Karola, Renée, Anne-Marie, Jacqueline
u: Guy, Martine, Klaus
o: Martine, Klaus, Karola, Jacqueline
u: Guy und die Cousine Anne-Marie Chambrelan

Hier wurden die deutschen Kinder herzlich aufgenommen. Alle Kinder besuchten zusammen die Schule in La Hulpe und teilten Freud und Leid miteinander. Von der freundschaftlichen Beziehung zeugen auch die Einträge im Poesiealbum von Karola aus dieser Zeit. Raymond Wolfers hatte Paul Tuteur mehrfach geraten, für seine Kinder Visa für Großbritannien zu beantragen. Aber den Tuteurs ging es in London schlecht, sie wohnten beengt, lebten von Gelegenheitsarbeiten und hatten so wenig Geld, dass es oft nicht für den Kauf einer Tageszeitung reichte, wie Paul Tuteur nach dem Krieg beschrieb. Da er wie viele andere nicht daran glaubte, dass Deutschland erneut einen Krieg beginnen würde, kümmerte er sich erst spät um die Visa der Kinder. Diese wurden für den 30. Mai 1940 ausgestellt.

Aber die Situation änderte sich schlagartig, als die deutschen Truppen am 10. Mai 1940 in Belgien einmarschierten. Damit war die Auswanderung von Karola und Klaus Tuteur unmöglich geworden. Weil Raymond Wolfers sich den belgischen Truppen in Großbritannien anschloss und seine Frau mit den Kindern zunächst nach Frankreich floh, brachte Raymond Wolfers die deutschen jüdischen Kinder zu ihrem sehr viel älteren Cousin Roger Tuteur, der in Brüssel in der Avenue Louise 30 lebte. Roger hatte aber bereits für sich und seinen Sohn Henri Visa für die USA und reiste wenige Wochen später nach Frankreich, wo er mit Henri an Bord der USS George Washington am 8. Juni 1940 ab Le Verdon die Reise ins Exil antrat.

Er hatte Karola und Klaus in Brüssel bei seiner Haushälterin zurückgelassen mit einer Summe von 500 belgischen Francs für ihre Versorgung. Als das Geld aufgebraucht war, kümmerte sich erneut die Familie Wolfers um die Kinder. Über das Unternehmen der Wolfers wurde eine Unterbringung in deren Haus für drei Wochen organisiert. Danach fanden Karola und Klaus Aufnahme im Kinderheim der Cité joyeuse in Molenbeek Saint-Jean: Karola im Haus Victor Rossel, Klaus im Haus Dr. Decroly. Von hier schrieb Karola einen Brief an ihre Eltern in London, der erhalten geblieben ist. In den Kinderheimen lebten sie, bis Renée Wolfers, die mit ihren Kindern aus Frankreich zurückgekehrt war, sie ab dem 26. Februar 1941 wieder zu sich nahm. Alle zusammen wohnten in Forest in der Square Larousse 22 bei der Schwester von Raymond Wolfers, Yvonne Dubois.

Nun konnten die Kinder noch einmal eine gute Zeit erleben. Mit den Wolfers teilten sie den Alltag, feierten die Familienfeste und verbrachten die Ferien miteinander bei den Pfadfindern. Für die Gastmutter Renée Wolfers schrieb Karola ein Gedicht und eine Erzählung zum Geburtstag und Klaus verlieh ihr ein Patisserie-Diplom. Klaus konnte sehr gut Stimmen imitieren und kleine Aufführungen organisieren, beide Kinder teilten die in der Familie Wolfers vorhandene Liebe zur Musik. Frau Wolfers machte sich Gedanken um die Zukunft der Kinder. Sie nahm an, dass Karola eine gute Lehrerin werden könnte, für Klaus hätte sich die Möglichkeit ergeben, bei der Schwägerin Yvonne Dubois eine Ausbildung zum Orthopädie-Techniker zu machen.

Damals standen Karola und Klaus auch mit ihrer Oma Johanna Metzger in Verbindung, die nach Frankfurt gezogen war, weil dort ihre Schwester Henriette Mayer lebte. Sie schrieb am 14. August 1942 in einem Telegramm an ihre Tochter Charlotte nach London: „Kinder gesund und munter“. In diesem Telegramm teilte sie aber auch ihre eigene Deportation nach Theresienstadt mit. (Deportation am 18.08.1942, Tod in Theresienstadt am 07.11.1943).

Foto von Karola Tuteur auf dem Ausländerbescheid der Gemeinde Forest vom 20.06.1942
Foto von Klaus Tuteur auf dem Ausländerbescheid der Gemeinde Forest vom 20.06.1942

Auch in Forest bei den Wolfers kam alles anders. Da immer mehr deutsche Offiziere in der Nachbarschaft wohnten, stieg die Gefahr für die Kinder. Inzwischen war mindestens Karola als Jüdin registriert. Der Schulbesuch war untersagt, so dass sie zuhause Privatunterricht bekamen.

Im September 1943 zogen Karola und Klaus Tuteur aus. Von da an lebten sie bei Frau J. Joye, die der Widerstandsbewegung angehörte, und niemand – auch nicht die befreundeten Kinder der Gastfamilie Wolfers – kannte ihre Adresse in Vossem. Nur Renée Wolfers besuchte sie von Zeit zu Zeit. Die Kinder hatten Dokumente, die auf die Namen Klaus Loeb für Klaus und auf Clara Goldberg für Karola lauteten. Damit sollte ihre wahre Identität verschleiert werden und auch die Tatsache, dass sie Geschwister waren.

Ergreifung und Deportation von Karola und Klaus Tuteur

Es gibt den Zeitzeugenbericht von Frans Sterckx, einem Bürger aus dem Ort Vossem, der davon berichtet, dass er mit den Joye’s und den Tuteur-Kindern zusammen Heiligabend 1943 gefeiert hatte. Am Weihnachtsmorgen hätten Karola und Klaus nach langer Zeit endlich mal wieder an die frische Luft gehen wollen und das Haus zur Hintertür verlassen. Dort ging es in die Felder und den Wald. Von diesem Spaziergang kehrten sie aber nicht zurück und alles Suchen nach ihnen blieb ohne Erfolg. Kurze Zeit später erreichte ein Brief die Familie van Hecke, Freunde der Wolfers, den Karola und Klaus aus dem Sammellager in der Kaserne Dossin in Mechelen schrieben und in dem sie um Zusendung von Wäsche baten. Aus Dokumenten aus Mechelen geht hervor, dass beide seit dem 31. Dezember 1943 in dem Sammellager mit ihren falschen Namen registriert waren. Die Geschwister richteten nie einen Brief, den sie wohl einmal im Monat schreiben durften, an die Familie Wolfers, um diese nicht zu verraten. Zunächst waren beide Kinder für den XXIII. Transport im Januar 1944 nach Auschwitz vorgesehen, sie wurden aber von der Liste genommen. Am 4. April 1944 jedoch mussten sie den Zug nach Auschwitz besteigen. Am Karfreitag, dem 7. April 1944, erreichte der XXIV. Transport Auschwitz.

Von Klaus fehlt danach jede Spur. Es gibt die Aussage aus Belgien von der Mutter einer Auschwitzüberlebenden gegenüber der früheren Gastmutter Renée Wolfers. Sie meinte, dass Karola noch gelebt hätte, als Inhaftierte von Auschwitz nach Bergen-Belsen verlegt wurden. Aber auch wegen der Namensverwirrrung durch den echten und den falschen Namen konnte nie abschließend geklärt werden, ob diese Aussage wirklich auf Karola Tuteur zutraf. Tatsache ist, dass Karola Tuteur nie in Bergen-Belsen angekommen ist.

Über den Verlust ihrer Kinder sind Paul und Charlotte Tuteur nie hinweggekommen. Das Schicksal der Kinder Karola und Klaus Tuteur  – so sagt ein Nachfahre der Wolfers, Francis de Laveleye, – war auch das Trauma der Familie Wolfers.

Rückkehr nach Kaiserslautern

Als das Ehepaar Tuteur am 24. Oktober 1946 aus England zurückkehrte, zogen sie zunächst in Neustadt an der Weinstraße ins Gasthaus Bratwurstglöckle in der Gutenbergstraße 1, ehe sie am 24. März 1947 wieder nach Kaiserslautern kamen. Ihr eigenes Haus, das aufgrund des durch die Vollmacht möglichen Verkaufs der Stadt Kaiserslautern gehörte, war zudem durch den Bombenangriff unbewohnbar. Daher wohnte das Ehepaar in der von-der-Tann-Str. 39, der heutigen Helmut-Hartert-Straße. Die große juristische Bibliothek, die Dr. Paul Tuteur einmal besessen hatte, blieb verschwunden.

Haus Alleestraße 10 nach der Bombardierung vom 14.08.1944

Berufliche Tätigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg

Da die meisten Rechtsanwälte dem Nationalsozialismus nahe gestanden hatten oder Partei-Mitglieder gewesen waren, war an eine Beteiligung in einer Kanzlei nicht zu denken. So nahm Dr. Paul Tuteur das ihm unterbreitete Angebot an und trat am 9. Dezember 1946 die Stelle als Landgerichtsdirektor am Landgericht Kaiserslautern an. Mit Wirkung zum 1. Januar 1949 wurde er zum Senatspräsidenten am Oberlandesgericht Neustadt ernannt, aber bereits zum 30. Juni des Jahres in den Ruhestand versetzt. Dem Ehepaar fehlte ihr früheres Vermögen, da mit dem Entzug der Staatsbürgerschaft am 28. Oktober 1940 ihr ganzer Besitz an das Deutsche Reich gefallen war. So war Dr. Paul Tuteur auch finanziell darauf angewiesen, wieder als Rechtsanwalt zu arbeiten. In langen Auseinandersetzungen mit der Rechtsanwaltskammer erreichte er schließlich Mitte 1950 die Wiedererlangung der Zulassung.

Wiedergutmachungsverfahren und Gerichtsprozesse

Um all das zurückzubekommen, was er, seine erste Frau Helene und seine zweite Frau Charlotte einmal besessen hatten: das eigene Haus in Kaiserslautern, Grundstücke in Ungstein sowie in und um Landau, musste Dr. Paul Tuteur zahlreiche Wiedergutmachungsanträge stellen. Außerdem ging er gerichtlich gegen diejenigen vor, die er als Täter erkannt oder vermutet hatte im Zusammenhang mit seiner Verhaftung 1933 und bei den Vorgängen im Novemberpogrom von 1938. Aber Anschuldigungen konnten nicht bewiesen werden oder die angesetzte Strafe musste aufgrund des Straffreiheitsgesetzes vom 31. Dezember 1949 nicht angetreten werden. So gingen am Ende die Täter bis auf einen straffrei aus.

Opfer des Holocaust in der Familie Tuteur

Man kann sich kaum vorstellen, was das lange Ringen um die Wiederzulassung und das Führen dieser Prozesse für Dr. Paul Tuteur bedeutet haben, ganz zu schweigen vom Verlust seiner Kinder und weiterer Familienmitglieder durch den Holocaust.

In einem Prozess äußerte er einmal, in der Tatsache, dass die Kinder sowie seine Schwester Johanna, sein Neffe Franz und seine Schwiegermutter Johanna Metzger im Holocaust umgekommen sind und sein Bruder Jakob in den Selbstmord getrieben worden ist, „darin liegt kein Sinn.“[5]. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass auch die Nichten Hilde Tuteur und Anna Becker umgekommen waren.

Am Ende eines Prozesses äußerten die Richter[6] bei der Urteilsverkündung: „Damals sind die Menschen bestimmten Glaubens in einer Atmosphäre des hasserfüllten niederen Instinkts für vogelfrei erklärt worden; sie wurden mit einer Brutalität verfolgt, die den Grundvorstellungen von menschlicher Würde und Freiheit ins Gesicht schlug.“[7]

Tod von Dr. Paul und Charlotte Tuteur und Erinnerung an die Familie

Dr. Paul Tuteur verstarb am 3. Dezember 1952. An ihn und an weitere jüdische Juristen erinnert eine Gedenktafel im Oberlandesgericht Zweibrücken.

Seine Frau Charlotte lebte als Witwe zum Schluss in der Buchfinkstraße 17. Sie hatte einen Schlaganfall erlitten und war in den letzten Lebensjahren auf Hilfe angewiesen. Als sie am 15. November 1968 starb, bedankte sich ihr Bruder Robert Metzger aus Landau in der Todesanzeige bei allen, „welche in ihrer Leidenszeit Beistand leisteten“[8].

Das Grab von Dr. Paul und Charlotte Tuteur auf dem jüdischen Friedhof ist leicht zu finden, denn es ist vom Bildhauer Richard Menges gestaltet, einem ehemaligen Nachbarn in der Alleestraße, und ist in seiner Art einzigartig. Das Relief auf dem Basaltstein zeigt ein Paar, das aus seinen geöffneten Händen zwei Tauben fliegen lässt. Die Inschrift lautet:

Die Sonne sank, die Kette riß, der Ewige nahm sie zu sich. Zum Gedenken an unsere geliebten Kinder, die ihr Leben in Auschwitz lassen mußten.

Grab von Dr. Paul und Charlotte Tuteur mit dem Gedenken an ihre Kinder Karola und Klaus auf dem jüdischen Friedhof, Kaiserslautern

Das Poesiealbum von Karola Tuteur tauchte in einem Antiquariat in Antwerpen auf, wo Roland Paul, damaliger Leiter des Instituts für pfälzische Geschichte und Volkskunde, es 2013 für die Pfalzbibliothek im Bezirksverband Pfalz ankaufte.

Eintrag von Anne-Marie Wolfers, verheiratete de Laveleye, im Poesiealbum von Karola Tuteur[9]

Die Stolpersteine in der Alleestraße 10 erinnern seit dem 29. August 2013 an Familie Dr. Paul Tuteur. Außerdem sind die Namen von Karola und Klaus Tuteur auf der Sandsteinstele am Synagogenplatz Kaiserslautern zu finden sowie in der belgischen Gedenkstätte der Kazerne Dossin, auf einer Gedenktafel in der Grundschule von La Hulpe, Belgien, und im Gedenkbuch des Bundes.

In besonderer Weise erinnerte die Lyrikerin Susanne Faschon an das Schicksal von Karola Tuteur. Susanne Faschon, geb. Reuter, war von Ostern 1936 bis zum 1. November 1937 Mitschülerin von Karola Tuteur im Mädchenlyceum der Franziskanerinnen in Kaiserslautern. In ihrem Gedicht versetzt sie sich in die Rolle einer ihrer ehemaligen Mitschülerinnen hinein, die erlebten, dass Karola nach der Pogromnacht nicht mehr in der Klasse erschien:

Susanne Faschon: Aarmes Schneewittche

Die wo in de Schul’
newer mer gsess’ hat,
war’s Tuteurs Karola.
Schwarzhoorig war se
un rot un weiß im Gsicht
wie’s Schneewittche.
Wie se uff äämol
gar nimmi kumm’ is,
hämmer gemäänt, die
weer’n ausgewannert
un hänn uns gekreppt,
daß se nimmand „Uff
Widdersehn“ gsaat hat.
Meer hän net geahnt,
dass ehr Glas-Sarg durch
die Luft gerääst is
un daß alles kää
Meerche war …[10]

Informationen zum Text

Die Daten zu Dr. Paul und Charlotte Tuteur mit ihren Kindern Karola und Klaus beruhen auf umfangreichen Recherchen von Christiane Stephani, Kaiserslautern, und Francis de Laveleye, Enkel der Familie Wolfers, Brüssel, in verschiedenen Archiven in Deutschland und Belgien.

Ausgangspunkt waren die Texte der Reden von Roland Paul, dem damaligen Leiter des Instituts für Pfälzische Geschichte und Volkskunde, die er bei der Verlegung der Stolpersteine in Kaiserslautern am 29. August 2013 und bei der Eröffnung einer Ausstellung zum Poesiealbum von Karola Tuteur im Museum Pfalzgalerie im Januar 2014 gehalten hat. Sie gehen auf Daten vor Ort sowie auf einen Briefwechsel mit Guy Wolfers, Brüssel, zurück.

Quellen in Belgien

Service des Archives des Victimes de Guerre, Archives générales du Royaume, Mémorial Kazerne Dossin Mechelen, Archives de la Ville de Bruxelles, Dokumente der Familie Wolfers.

Quellen in Deutschland

Meldekarten aus den Stadtarchiven von Kaiserslautern, Landau und Mannheim;

Klassenlisten des Mädchenlyceums Kaiserslautern im Bistumsarchiv Speyer;

Akten im Landesarchiv Speyer zu Sterbeurkunden, Testament und Toterklärung der Kinder (LA Speyer: J20, Nr. 811, J20, Nr. 2777, J20, Nr. 2779), den Klagen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit bei den Vorgängen von 1933 (LA Speyer: J1, Nr. 1098, J1, Nr. 1719, J71, Nr. 428-429, J73, Nr. 1181, Nr. J73, Nr. 1197) und beim Novemberpogrom 1938 (LA Speyer: J1, Nr. 1912, J73, Nr. 316, J73, Nr. 320, J73, Nr. 1413, J73, Nr. 1555) sowie Akten zu Wiedergutmachungsverfahren (LA Speyer: J7, Nr. 71 und J75, Nr. 1412, J7, Nr. 900-901, J7, Nr. 1096) und Akten zur juristischen Laufbahn nach 1945 (LA Speyer: J1, Nr. 1704, J7, Nr. 2424; LA Koblenz 860P, Nr. 3307), Verfahren Gerichtsvollzieher Schermer, Fall Bürckel (LA Speyer: R18, Nr. 25330)

Literatur

Todesanzeige und Nachrufe auf Dr. Paul Tuteur: Die Rheinpfalz 09.12.1952; Todesanzeige Charlotte Tuteur: Die Rheinpfalz 20./21.11.1968.

Roland Paul: Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung „Mög der Himmel Dich bewahren“. Das Poesiealbum der Jüdin Carola Tuteur. 12. November 2013 – 31. Januar 2014, Pfalzbibliothek Kaiserslautern.

Hans Kirsch: Sicherheit und Ordnung betreffend. Die Geschichte der Polizei in Kaiserslautern und in der Pfalz 1276-2006. Kaiserslautern 2007.

Reinhard Weber: Das Schicksal der jüdischen Rechtsanwälte in Bayern nach 1933. Oldenbourg-Verlag, München 2006.

Susanne Faschon: Aarmes Schneewittche. In: Donnersberger Literaturverein:Erinnerungen an Susanne Faschon. 2015, S. 42. Die Veröffentlichung des Gedichtes „Aarmes Schneewittche“ von Susanne Faschon erfolgt mit freundlicher Genehmigung ihrer Tochter Viola Schwärzel. Die Rechte an dem Gedicht ihrer Mutter liegen bei ihr.

Quellen der Fotos

Grab von Helene Wilhelmine Tuteur, jüdischer Friedhof Kaiserslautern. Christiane Stephani.

Foto der jüdischen Sonderklasse in der Röhmschule, Stadtarchiv Kaiserslautern F-A4-33984.

Klassenfoto der 2. Klasse mit Sr. Wilbranda Jessberger, Mädchenlyceum der Franziskanerinnen 1937-38, aus einer Schenkung von Frau Rosemarie Krick, geb. Müller an die Stolpersteininitiative Kaiserslautern.

Foto von Dr. Paul Tuteur aus: Reinhard Weber: Das Schicksal der jüdischen Rechtsanwälte in Bayern nach 1933, Oldenbourg, München 2006. S. 305.

Einzelfotos von Karola und Klaus Tuteur: Inlichtingsbulletin [Informationsblatt der Gemeinde] Overijsche, 14.03.1939.

Fotos der Familie Wolfers mit Karola und Klaus: private Fotos © Wolfers.

Einzelfotos von Karola und Klaus Tuteur im Garten von Square Larousse 22, Forest, private Fotos © Wolfers verwendet im Bulletin d’ Étranger [Ausländerbescheid] der Gemeinde Forest vom 20.06.1942.

Haus Alleestraße 10 nach der Bombardierung, Stadtarchiv Kaiserslautern F-A4-13263.

Grab von Dr. Paul und Charlotte Tuteur auf dem jüdischen Friedhof Kaiserslautern. Christiane Stephani.

Foto vom Eintrag von Anne-Marie Wolfers im Poesiealbum von Karola Tuteur. Pfalzbibliothek Kaiserslautern.


[1] Landesarchiv Speyer (LA Speyer J1, Nr. 1704)

[2] Nachruf, Zeitungsausschnitt, StA Kaiserslautern

[3] In Gurs verstarb der Kaufmann Hermann Theodor Hirsch am 03.12.1940 und seine Frau Emilie am 18.11.1940.

[4] Die Familie Siegfried und Alice Engel mit der Tochter Marianne kamen über den Weg Gurs-Drancy-Auschwitz um.

[5] Wiedergutmachungsklage Elternhaus Fackelstraße 14 (LA Speyer J7, Nr. 900)

[6] Landgerichtsdirektor Dr. Micha, Landgerichtsrat Bügler, Landgerichtsrat Dr. Steiger

[7] Prozess gegen Friedrich Klüber wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit Urteil vom 15.03.1949 (LA Speyer J73, Nr. 308)

[8] Todesanzeige Charlotte Tuteur: Die Rheinpfalz 20./21.11.1968

[9] Abdruck mit Genehmigung der Pfalzbibliothek Kaiserslautern im Bezirksverband Pfalz.

[10] Übersetzung des Gedichts in Hochdeutsch durch Christiane Stephani:

Diejenige, die in der Schule / neben mir gesessen hat, / war Karola Tuteur. / Schwarzhaarig war sie / und rot und weiß im Gesicht /wie das Schneewittchen. / Als sie auf einmal / gar nicht mehr [in die Klasse] gekommen ist, / haben wir gedacht, die [Tuteurs] / seien ausgewandert / und wir haben uns geärgert, / dass sie [Karola] niemandem „Auf / Wiedersehen“ gesagt hat. / Wir haben nicht geahnt, / dass ihr Glas-Sarg durch / die Luft gereist ist / und dass alles kein / Märchen war …