Recherche: Roland Paul
August Hanau wurde 1872 in dem damals zu Preußen gehörenden Ort Tholey, Bezirk Ottweiler, als Sohn des Handelsmannes Moses Hanau und seiner Frau Karolina, geb. Jakob geboren. Von seiner Familie wurde er Adolf genannt. Er erlernte nach dem Schulbesuch den Kaufmannsberuf und leistete 1894/95 seinen Militärdienst beim Feldartillerie-Regiment Nr. 37 ab.
Am 6. November 1904 heiratete er im westpfälzischen Brücken Clara Roos, geboren dort am 29. Januar 1878 als Tochter des Kaufmanns Leopold Roos und seiner Frau Helene Sender. In den ersten Jahren nach ihrer Hochzeit wohnten August Adolf und Clara Hanau zunächst in Dillingen an der Saar, ab 1906 in Saarbrücken, wo zwischen 1905 und 1912 sechs Kinder das Licht der Welt erblickten. Vier dieser Kinder starben im Säuglingsalter.
Im November 1913 zog das Ehepaar zusammen mit der 1907 geborenen Tochter Martha und der 1912 geborenen Tochter Helene nach Kaiserslautern. Sie fanden in der Pirmasenser Straße 28 eine Wohnung. Hier wurde 1914 die dritte Tochter Erna geboren.
Von 1915 bis 1918 nahm Adolf Hanau am Ersten Weltkrieg teil und machte die Feldzüge gegen Frankreich und Russland mit. Seine militärische Führung wurde von seinem Vorgesetzten als „sehr gut“ bezeichnet. Gegen Kriegsende erkrankte er an der lebensgefährlichen Spanischen Grippe und wurde von Mitte März bis Mitte September 1918 im Reservelazarett I in Kaiserslautern erfolgreich behandelt. Das alles geht aus den bayerischen Militärstammrollen hervor.
Zurück in Kaiserslautern zog er mit seiner Familie 1918 von der Pirmasenser Straße um in die Kerststraße 17, um schließlich im Juli 1930 das eigene Haus im Grünen Graben 6 zu beziehen. Im Frühjahr 1933 wurde das Geschäft der Hanaus boykottiert. Fortan spürten sie die zunehmende Ausgrenzung und den Niedergang ihrer Lebensgrundlage. Die drei Töchter emigrierten 1934 nach London.
Im November 1938 mussten Adolf und Clara Hanau die Zerstörung ihrer Wohnung miterleben. Im Dezember 1938 verließen sie ihr Haus und zogen in die Hummelstraße 33. Von dort kamen sie am 14. August 1939 in das Judenhaus Steinstraße 30. Von hier erfolgte die Deportation am 22. Oktober 1940 nach Gurs.
Genau vier Monate blieben sie in Gurs. Am 22. Februar 1941 wurde das Ehepaar Hanau – wie viele andere ältere Leute – in das Lager Noé bei Toulouse verlegt. Hier erkrankte Adolf Hanau und kam in das Hospital nach Toulouse. Dort starb er am 21. Februar 1942.
Clara Hanau wurde im August 1943 mit weiteren 23 Frauen von Noé nach Saint Sauveur im Département Isère verlegt. Dort blieb sie bis zur Befreiung. Nach dem Krieg lebte sie in Aix-les-Bains. Mit einem am 4. Juni 1946 in Marseille ausgestellten Pass wanderte sie vom spanischen Bilbao aus mit dem Schiff „Marques de Comillas“ in die USA aus.
Am 5. Juli 1946 kam sie im Hafen von New York an, wo sie von ihren drei Töchtern, die in der Zwischenzeit alle in New York lebten, empfangen wurde. Sie starb am 22. Juni 1955 im Alter von 77 Jahren in New York und wurde auf dem Mount Richmond Cemetery in Staten Island bestattet.
Quellen:
Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Nr. 10068 Kriegsstammrollen (1914-1918), Bd. 4;
Stadtarchiv Saarbrücken, Akten des Standesamts Saarbrücken, Geburts- und Sterbeakten;
Stadtarchiv Kaiserslautern, Meldekartei 1;
Archives Départementales Pyrénées Atlantiques, Pau, 72 W, 128;
New York Passenger Lists, 1820-1957;
Aufbau. Nachrichtenblatt des German-Jewish Club Inc., New York, NY, 3.4.1942;
New York, Hebrew Burial Records (HFBA), Silver Lake and Mont Richmond Cemeteries, 1891-1991.
Roland Paul, Pfälzer Juden und ihre Deportation nach Gurs. Schicksale zwischen 1940 und 1945. Biographische Dokumentation, Kaiserslautern 2017, S. 84.
Rede von Erik deLuca, aus dem Englischen übersetzt von Julius Rothländer
Eric deLuca, der Enkel von Erna Hanau, der jüngsten Tochter der Familie, reiste zur Steinverlegung am 8.10.2022 aus USA an und hielt diese Rede im Gedenken an seine Großmutter und seine weitere Familie in englischer Sprache. Sein Freund Julius Rothländer übersetzte.
Einige Male bin ich als Künstler, als Gast, nach Deutschland gekommen. Dieses Mal komme ich als Staatsbürger dieses Landes. Im Jahr 1941 hat Nazi-Deutschland die Staatsbürgerschaft aller deutschen Juden widerrufen, die das Land verlassen haben. Oder – wie im Falle meiner Urgroßeltern – die Staatsbürgerschaft wurde im Zusammenhang mit der erzwungenen Deportation in Konzentrationslager entzogen. Im Jahr 1949 hat Deutschland die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft für Menschen wie meine Großmutter und ihre Nachkommen beschlossen – Menschen wie mich. Jedoch, meine Großmutter kehrte nie zurück.
Im Jahr 1930 zog meine Großmutter Erna in dieses Haus, Grüner Graben 6. Ihre Eltern, Adolf und Klara, kauften das Haus, wohnten im Obergeschoss, vermieteten Zimmer und betrieben einen Kaufmannsladen im Erdgeschoss. Acht Jahre später beschlagnahmten die Nazis das Haus Grüner Graben 6 und zwangen meine Familie in einem jüdischen Ghetto zu leben – zunächst in der Hummelstraße 33 und dann in der Steinstraße 30. Dort erhielten sie fortlaufend Post von der von den Nazis eingesetzten Vermögensverwertungsgesellschaft, die sie unter Druck setzte das Haus Grüner Graben 6 zu verkaufen. Wie sollten sie in ihren Umständen für Strom und andere Nebenkosten bezahlen? Wie sollten sie ihre Steuern und ihre Hypothek bezahlen? Nicht nur war es ihnen nicht länger erlaubt in ihrem eigenen Haus zu wohnen, es war ihnen auch nicht länger erlaubt zu arbeiten. Sie verloren ihre Freiheit, aber sie gaben den Nazis nicht nach und verkauften ihr Haus nicht. Am 22. Oktober 1940 deportierten die Nazis meine Urgroßeltern – jetzt unter den Namen Israel und Sarah – in ein Gefängnis ohne Zaun am Fuße der Pyrenäen in Frankreich. Meine Großmutter Erna, und ihre zwei Schwestern Marta und Helena, konnten fliehen – jede für sich und ohne ihre Eltern.
Ein Zufall brachte mich hierher. Noch im letzten Herbst wusste ich fast gar nichts über meine Familie, die hier wohnte. Ich war auf dem Rückweg nach Berlin aus dem Schwarzwald. Kurzentschlossen stoppte ich in Kaiserslautern und verbrachte hier zwei frustrierende Tage, an denen ich ziellos umherwanderte. Auf meinem Weg aus der Stadt ging ich durch einen Park mit zwei braunen Säulen, die wie Ruinen aussahen. Ich bemerkte, dass auf den Säulen Namen eingraviert waren. Unglaublicherweise entdeckte ich den Namen Adolf Hanau – mein Urgroßvater. Meine Mutter und ihre zwei Geschwister hatten nicht gewusst, dass ihrem Großvater hier gedacht wurde, am Ort der Synagoge, in die ihre Mutter gegangen war.
Die symbolische und die tatsächliche Bombe, die meine Familie zerbrach, landete hier am Grünen Graben 6. Sie zerstörte Namen, Sprachen und Einheit. Die tatsächliche Bombe, die hier explodierte, war entweder eine 50 Pfund General Purpose Bombe oder eine M17 Cluster Bomb, die vom Land meiner anderen Staatsangehörigkeit hier abgeworfen wurde. Sowohl die symbolischen als auch die tatsächlichen Bomben – wie Genozid, Sklaverei oder Apartheid – hinterlassen Ödland.
Im Januar 1952 lag Grüner Graben 6 unter einem Berg von Essensabfällen, Müll und Bauschutt. Was einst das Jugendhaus meiner Großmutter war, war verwandelt worden in eine lokale Müllhalde, in der Ratten hausten. Nachbarn schrieben einen Brief an den Bürgermeister von Kaiserslautern, mit der Bitte das Grundstück Grüner Graben 6 zu umzäunen, da die Eigentümerfamilie nicht da sein konnte, um sich darum zu kümmern. Während die Überreste des Hauses meiner Großmutter in Schutt und Asche lagen, war ihr Vater Adolf (einst ein deutscher Soldat) gestorben, höchstwahrscheinlich verhungert im Camp de Noé. Frankreich hat indes nach wie vor keine Dokumente zu seinem Verbleib.
Meine Mutter hat die Bruchstücke dieses Hauses geerbt. Ich habe die Bruchstücke dieses Hauses geerbt. Mein Bruder hat die Bruchstücke dieses Hauses geerbt.
In Deutschland werde ich anders wahrgenommen als in den USA. Dort, in den USA, versetzt mich mein Weißsein in eine Position der Sicherheit. In Deutschland verbindet mich meine Erscheinung mehr mit den 11 Millionen Migrant*innen aus Orten wie der Türkei oder Syrien.
Im letzten Herbst, am gleichen Tag, an dem ich herausfand, dass das Haus Grüner Graben 6 meiner Familie in einem Akt von Diebstahl widerrechtlich enteignet worden war, wurde ich von der Polizei grundlos angehalten. Für sechs Stunden wurde ich Opfer eines gewaltsamen Vorgehens der Polizei, inklusive der Entnahme von Blut aus meinem Körper ohne meine Zustimmung. Nach diesem Vorfall reichte ich monatelang Beschwerde ein und wurde in der Folge in einen vielschichtigen, langwierigen bürokratischen Prozess involviert. Ich hatte die Zeit dafür. Letztlich initiierte die Polizei Kaiserslautern eine interne Ermittlung. Ich wurde als Zeuge befragt, zu dem Verbrechen, das an mir begangen worden war. Der Polizeibeamte, der meine Zeugenbefragung durchführte, eröffnete mir, dass die Taten der Polizisten fremdenfeindlich waren, möglicherweise antisemitisch. Der Beamte sagte, dass derartige Polizeigewalt gegen Menschen, die nicht stereotyp deutsch aussehen, regelmäßig vorkommt. Er erklärte mir, dass Polizeigewalt in Deutschland meist unaufgeklärt bleibt, weil viele ihrer Opfer Angst vor einer Abschiebung haben. Ironischerweise fand ich mich in einem ähnlichen Szenario wieder wie einst meine Großmutter – wenn auch in einem deutlich geringeren Ausmaß. Ich transferiere diesen Moment des Erinnerns nicht in die Gegenwart, um die unvergleichlichen Ausmaße des Holocausts zu mindern, sondern um Übergänge zwischen Zeit und Raum aufzuzeigen.
Bomben sollen Ödland erzeugen. Es werden Versuche gemacht ihre Folgen zu beseitigen und aufzuräumen. Die Bombe, die das Haus und die Menschlichkeit meiner Großmutter zerstörte, ist verbunden mit der Bombe der Sklaverei und der kolonialen Geschichte der USA; mit den Völkermorden an den Rohingya, den Uiguren und den Menschen in Darfur heutzutage. Die Bombe, die die Menschlichkeit meiner Großmutter zerstörte, hallt wider in den Bomben der Roten Khmer, von Suharto und in Ost-Timor. Sie veranlasst Australien einen „National Sorry Day“ einzuführen, und hat „Truth and Reconciliation“ Kommissionen zur Folge, in Südafrika, Sierra Leone und in meiner Heimatstadt Providence, Rhode Island. Sie verhindert interracial und gleichgeschlechtliche Ehen; und das Ändern der Namen von Trans-Menschen. Sie lässt Frauen im Iran für ihre Unabhängigkeit demonstrieren, und sie lässt Männer in Russland aus ihrem Land fliehen, um zu vermeiden, dass sie ukrainische Bürger*innen töten müssen und Denkmäler zum Einsturz bringen.
Wenn ich den Stolperstein mit dem Namen meiner Großmutter sehe, denke ich nicht nur an sie, sondern auch an die Fragen nach Erhaltung und Auslöschung; und an die Fragen danach, was invasiv und was eigentlich ist.
Meine Großmutter war eine Feministin. Nachdem sie aus Nazi-Deutschland geflohen war, kämpfte sie dagegen an eine Hausfrau zu sein. Sie war die erste weibliche Versicherungsvertreterin im Staat Virginia. Wäre ich zu ihren Lebzeiten ein wenig älter gewesen, stelle ich mir vor, dass wir uns darüber unterhalten hätten wie für manche Menschen gesorgt wird, und für andere nicht; wie eine traumatische Vergangenheit, und das Gedenken daran, eine andere überschatten kann. Wir hätten womöglich darüber geredet wie Deutschland zwischen 1904 und 1908 einen der ersten Völkermorde der Geschichte beging, und dabei nahezu alle Herero und Nama in Namibia tötete. Im Jahr 2012 blockierte der deutsche Bundestag einen Vorstoß der Opposition diesen Völkermord überhaupt anzuerkennen. Erst im letzten Jahr änderte sich das schließlich. Ich stelle mir vor, meine Großmutter und ich hätten uns darüber unterhalten wie Israel seinen Siedlern neue Wege ebnete, auf Basis der Enteignung palästinensischen Eigentums. Die zwei entsprechenden Gesetze aus dem Jahr 1950 sind noch heute gültig und bestimmen, dass Palästinenser*innen, die nach 1947 aus dem Land flohen, als Abwesende betrachtet werden und ihr Eigentum das Eigentum des Staates Israel wird. Dieses Gesetz steht im Zusammenhang mit einem Gesetz, das allen jüdischen Menschen, die nach Israel immigrieren, das Anrecht auf Staatsangehörigkeit gibt.
Beim bewussten Zuhören und Betrachten der Nuancen von Rückgabe und Gedenken geht es um den ironischen Akt der Entschädigung der Menschen, die gelitten haben; es geht um das Annehmen der Opferrolle, aber das Vermeiden einer Viktimologie, die instrumentalisiert wird für mehr Enteignung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus.
Auch wenn er das so nicht thematisiert, so ist die fortwährende Erinnerung der Holocaust-Opfer durch die Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig auch eine Erinnerung an seine Schuld. Mit Fürsorge und Sorgfalt konzipierte Demnig diese Denkmäler als eine Antwort auf den Historikerstreit der späten 80er Jahre und eine Welle an Studentenprotesten, die die vorherige Generation mit ihrem Schweigen zum Holocaust konfrontieren sollte. Durch ein robustes System von Regeln, Regularien und monetären Spezifikationen, hat Demnig über 75.000 dieser 96mm x 96mm großen Stolpersteine in ganz Europa geschaffen. Ich sehe den Wert dieses Denkmals, weil es ganz einfach die Enteignung des Hauses meiner Familie markiert. Es pauschalisiert die Opferrolle jedoch, in dem es lediglich fünf Schicksale anbietet – Internierung, Selbstmord, Exil oder Deportation und Ermordung; es ist eine grobe Vereinfachung der individuellen, politischen Realitäten der Leben, die in diese Steine eingraviert werden. Es glättet jede Diskussion über die Unterschiede zwischen Vergangenheitsbewältigung und Vergangenheitsaufarbeitung.
Im Entschädigungs-Antrag meiner Urgroßmutter für ihren „Schaden an ihrer Freiheit“ wurde sie gebeten ihre Staatsangehörigkeit anzugeben. Mit Sicherheit wussten die Menschen, die den Entschädigungs-Prozess in den Nachkriegsjahren verwalteten, dass meine Urgroßmutter eine staatenlose Frau war – eine nahezu jenseitige Situation.
Meine Urgroßmutter Klara, meine Großmutter Erna und meine Mutter Susan würden alle zustimmen, dass ein fortwährendes Lernen essentiell für ein gesundes Leben ist.
Ich habe kürzlich erfahren, dass meine Großmutter sich sehr mit futuristischen Fragen nach außerirdischem Leben und dem Universum beschäftigte. Um für sich und andere zu sorgen, eignete sie sich auf kreative Weise neues Wissen an und tauchte dabei in Sphären ein, die besser waren als die, in denen sie selbst lebte. Meine Großmutter wusste, dass diese Welt nicht für sie war, sodass sie lernen musste; und sich eine andere Welt vorstellte, die ihr über Zeit und Raum hinweghelfen würde. Diese Welt, die nicht für sie war, begann hier, Grüner Graben 6.