Recherche: Gunther Strauß
Parkstraße 71
Die Parkstraße 71 ist ein wichtiges Haus in dem Leben von drei Geschwistern: Dr. Arnold Lehmann war hier versteckt, für Antonie Lehmann war es ein Zufluchtsort vor ihrem Abtransport nach Theresienstadt, für Fritz Lehmann war es eine legale Wohnung bis zu seinem Abtransport ebenfalls nach Theresienstadt.
Dr. Arnold Lehmann, Jahrgang 1883, studierte Englisch, Französisch in München, Berlin, Oxford und Paris. Er unterrichtete dreißig Jahre an der Oberrealschule in Kaiserslautern, dem heutigen Hohenstaufen-Gymnasium und war auch Fachleiter für die Referendarsausbildung.
Ab 1936 darf er die Schule nie mehr betreten. Was hatte man ihm vorgeworfen? Nichts. Er kam aus einer alten jüdischen Familie, beide Großväter waren in ihren Heimatgemeinden jüdische Kantoren. Die Eltern hatten sich und ihre Kinder protestantisch taufen lassen, doch nach der Definition der Nazis waren sie trotzdem Juden. Nach den Nürnberger Reichsgesetzen müssen Juden den Staatsdienst verlassen. Das heißt übersetzt, jüdische Lehrer dürfen keine deutschen Schüler mehr unterrichten.
Für den gebildeten, feinsinnigen und sehr beliebten Studiendirektor beginnt nun ein ungewisses Leben einhergehend mit einem totalen sozialen Absturz. Noch kann er sich mit seiner Frau Emilia eine bürgerliche Wohnung im Grünen Block in der Altenwoogstraße leisten. Ab Mai 1938 ist alles vorbei. Er zieht um in den Benzinoring 22. Was jetzt beginnt ist eine wahre Odyssee zwischen zugewiesener und registrierter Wohnung durch das Einwohnermeldeamt und der wirklichen Unterkunft, wo er sich versteckt hielt.
Der Organisator, der diese Versteckspiele koordinierte, war sein bester Freund, Paul Münch, ebenfalls Lehrer an der Oberrealschule. Dieser nutzte seinen Beliebtheits- und Berühmtheitsgrad und hatte seinerseits viele Helfer für Lehmann. Wo lebte nun Dr. Lehmann? Er selbst gibt an, dass er zeitweise in einer Notwohnung in der Parkstraße 71 untergetaucht sei. Das Anwesen mit über 2000 Quadratmetern gehörte Dr. K. Chr. Ruby, Chef der Karlsbergbrauerei und Rechtsanwalt in Kaiserslautern. In diesem Haus wohnte wiederum zeitweise kostenlos auch sein Bruder, der Journalist Fritz Lehmann. Die besagte Notwohnung war die Garagenwohnung des Chauffeurs von Dr. Ruby. Das Haus wird zweimal gestürmt.
Die längste Zeit hielt sich Dr. Lehmann bei seinem Kollegen und Freund von Münch, Dr. Richard Mohr, in Hohenecken auf. Das Anwesen in der Deutsch Herrengasse 57 war zwei Hektar groß, umfasste Wald und Wiesen, war abgeschlossen, überbaut mit zwei Häusern sowie einem Gartenhaus. Die soziale Lage jedoch war für Dr. Lehmann katastrophal. Die Nachbarn, hier ist auch die Familie Nauerz zu erwähnen, mussten dringend Lebensmittelkarten organisieren.
Zum letzten Mal gesehen wurde Dr. Lehmann am Ende des 2. Weltkriegs in Hassloch, Klostergasse 12. Dort lebte er bei dem Sohn von Dr. Richard Mohr.
Am 15. Mai 1945 wird Dr. Lehmann zum allerwichtigsten Pädagogen von Kaiserslautern. Alle Schulen im Stadt- und Landkreis Kaiserslautern muss er aufbauen. Für seine Aufgaben wird er noch vier Jahre lang gebraucht. Er wird Direktor der Oberrealschule unter einer Bedingung, die er stellt, sein bester Freund, Paul Münch, muss zweiter Direktor werden. Die Amerikaner stimmen zu.
Geschichte kann oft sehr grotesk sein. Adolf Hitler nahm sich am 30. April 1945 das Leben und verkündete vorher, dass seine große Leistung gewesen sei, Europa judenfrei gemacht zu haben. Zwei Wochen später wird ein Jude beauftragt, das Bildungssystem neu aufzubauen.
Antonie Lehmann, Jahrgang 1885, ist seit ihrer Geburt schwer krank. Sie litt an einer chronischen Lungen -und Atemwegsentzündung. Über ihre schulische Ausbildung ist nichts bekannt, sie wird in ihrer Personalakte immer als Pensionärin bezeichnet. Sie lebt bei ihren Eltern; nach dem frühen Tod ihres Vaters wird sie von ihrer Mutter betreut. Beide gehen am 25. Februar 1927 ins Graviusheim. Am 22. Oktober 1940 steht sie auf der Liste zum Abtransport nach Gurs. Die Heimleiterin, Frau Anna Gleich, kämpft um das Leben von Antonie.
Es gibt einen heftigen Streit mit dem OB Imbt, ihr wird angedroht, dass sie ebenfalls in ein KZ kommen würde. Frau Gleich muss aus gesundheitlichen Gründen gehen und damit waren die Tage von Antonie gezählt.
Sie verlässt das Heim am 10.März 1942 und zieht zu ihrem Bruder Fritz Lehmann in die Parkstraße 71. Am 26. Juli 1942, es war ein verregneter Sonntag, wird Antonie von zwei Gestapoleuten abgeholt. Sie kommt auf das Messegelände in Köln, bekommt die Nummer 1138 und wird nach Theresienstadt deportiert. Der Bahnhof, Bohusovic, liegt zwei Kilometer entfernt, sie muss diese Strecke mit ihren Habseligkeiten zurücklegen.
In Theresienstadt können maximal 8 000 Menschen leben. Bei ihrer Ankunft vegetieren über 60 000 in dem Ghetto.
Es gibt 76 jüdische Ärzte, die gar nichts bewirken können, sie haben keine Geräte und keine Medikamente. In der Nacht vom 17. auf den 18. August stirbt Antonie. Es gibt kein Grab von ihr, man hatte die Leichen in Massengräbern bei Bohusovic verscharrt. Auch die Brüder wissen bis zum Ende des Weltkriegs nichts von dem Verbleib ihrer Schwester.
Fritz Lehmann, Jahrgang 1890, täuschte sich ganz gewaltig in der Politik der Nazis. Er selbst war nie ein Nazi gewesen, fand aber gut, dass Adolf Hitler gegen die Bolschewisten vorgehen würde.
Er war Journalist bei der Pfälzischen Bürgerzeitung, wird deren Chefredakteur und avanciert zum Schriftleiter, sein oberster Chef ist Goebbels.
1937 wird er arbeitslos, schlägt sich durch mit Gelegenheitsjobs, ist aber so arm, dass er sich keine Wohnung leisten kann. Wieder hilft Dr. Ruby, er kann mietfrei in einer Wohnung in der Parkstraße 71 leben.
1938 kommt er für mehrere Wochen ins KZ nach Dachau, die Zeit wird immer brenzliger für ihn, auch er braucht einen weiteren Zufluchtsort. Die Familie Herbert Meininger vom Verlag Meininger in Neustadt/ Weinstraße nimmt ihn zeitweise auf.
Am 08. März 1945, die Amerikaner stehen kurz vor Kaiserslautern, wird das Haus wieder von zwei Gestapoleuten gestürmt. Fritz Lehmann und vier Jüdinnen werden gefangen genommen, über Neustadt nach Theresienstadt deportiert. Die dort verbliebenen Häftlinge überlebten, weil die Sowjetsoldaten früher als erwartet Theresienstadt erreichten und so befreit wurden.
Fritz Lehmann wird Redakteur der Rheinpfalz, träumt von einer neuen, demokratischen Presselandschaft und wollte sie mit Herbert Meininger aufbauen. Beide trafen sich mehrmals bis zum 17. Dezember 1945. An einem schneereichen Tag prallte Fritz Lehmann in der Höhe von Frankenstein mit einem entgegenkommenden Fahrzeug frontal zusammen. Schwer verletzt wurde er in die Wohnung der Großeltern Meininger gebracht, wo er am 19. Dezember verstarb.