Recherche: Elisabeth Merkert
Die Tuteurs waren in Kaiserslautern eine weit verzweigte angesehene jüdische Familie, deren Wurzeln in Winnweiler und noch weiter zurück in Neuleiningen zu finden sind. Für Dr. Paul Tuteur, seine Frau Charlotte und die beiden Kinder Carola und Claus wurden schon 2013 Stolpersteine verlegt, wie auch für Dr. Robert Tuteur und seinen Sohn Herbert.
Eduard Moses Tuteur war ihr Cousin, der älteste Sohn von sieben Kindern des Ehepaares Benjamin Tuteur und Ernestine, geb. Kissinger. Er war Jahrgang 1881, übernahm die Lederwarenfabrik seines Vaters, die Gamaschen und Schäfte für Schuhe herstellte und 1930 etwa 60 Arbeiter beschäftigte. Er heiratete die 13 Jahre jüngere Mathilde Herz, genannt Tillie aus Ockenheim bei Bingen. Sie hatten vier Kinder, von denen das älteste, Bernhard schon mit zwei Jahren 1922 starb. Die beiden Mädchen Hannah und Eva wurden 1922 und 1924 geboren, Karl-Heinz 1926. Es ging ihnen gut. Die Tochter Eva erinnert sich, dass sie ein Hausmädchen, eine Köchin und ein Kindermädchen „Dedda“ hatten, das sie innig liebten. Allerdings berichtet sie auch, dass ihre Mutter kränklich und oft müde war. Der Kontakt zur weit verzweigten Familie war gut, denn die Kinder wurden auch mal in den Ferien zu Verwandten z.B. in Frankfurt geschickt.
Im Jahresbericht 1938/39 der Oberrealschule , dem heutigen Hohenstaufen-Gymnasium, wird Karl-Heinz Tuteur unter den Schülern genannt, die während des Schuljahres ausgeschieden sind. Er war 12 Jahre alt, also etwa 6. Klasse.
1938 ist für die Familie das Schicksalsjahr.
Die Repressalien der Nazis fürchtend senden sie ihre älteste Tochter Hannah, damals gerade 16 Jahre alt, nach Palästina, um dort als Angehörige der zionistischen Jugendbewegung mitzuhelfen ein Kibbuz aufzubauen.
Wahrscheinlich wurde die Wohnung in der Pogromnacht 1938 zerstört, denn die Familie zieht (im Februar 1939?) nach Mannheim, wo sie bei der Schwester Eduards, Clara Lehmann, und ihrem Mann Salomon Unterschlupf findet.
Dort lebt seit Dezember 1938 auch schon die Großmutter Ernestine Tuteur geb. Kissinger, die allerdings dort 1940 noch vor dem Abtransport nach Gurs im hohen Alter von 89 Jahren stirbt.
Im Juni 1939 schicken sie die zweite Tochter Eva nach Schweden. Sie ist 15 Jahre alt.
Der jüngste Sohn Karl-Heinz ist ihnen mit seinen 13 Jahren entweder noch zu jung, um ihn in die Fremde zu schicken oder sie bekommen keine Ausreisegenehmigung für ihn mehr. So versuchen sie, wie so viele andere Juden, in der Anonymität der Großstadt Mannheim unauffällig zu leben. Doch auch sie werden am 22. Oktober 1940 aufgefordert, sich mit dem, was sie tragen können, am Bahnhof einzufinden und werden mit den anderen jüdischen Bürgern aus der Pfalz und Baden nach Gurs ganz im Südwesten Frankreichs abtransportiert. Die Gauleiter Bürckel und Wagner wollen ihre Gaue „judenfrei“ haben.
Die Lebensbedingungen in Gurs sind katastrophal; es ist später Herbst, es regnet und das Lager verwandelt sich in eine Wüste aus Schlamm mit unhaltbaren hygienischen Bedingungen, Krankheiten, dürftiger Verpflegung und Ratten. 60-80 Menschen, nach Frauen und Männern getrennt, leben in einer Baracke.
Bei ihrer Deportation ist Eduard 59 Jahr alt, Tillie 46 und Karl-Heinz 14 Jahre alt. Auch Eduards Schwester Clara und ihr Mann Salomon Lehmann, bei denen die Familie in den Quadraten L13,15 in Mannheim Unterschlupf gefunden hatte, sind dabei. Etwa zwei Jahre verbringen sie im Lager. Für die Erwachsenen gibt es kein Entrinnen mehr. Über das Sammellager Drancy werden sie 1942 nach Auschwitz gebracht und dort ermordet.
Mit Weitsicht hatten die Eltern alles versucht, ihre drei Kinder zu retten.
Die älteste Tochter Hannah schickten sie 1938 als 16-Jährige mit der zionistischen Jugendbewegung nach Palästina. Meist wurden die Ausreisewilligen in sogenannten Hachscharah, handwerklichen und landwirtschaftlichen Ausbildungsstätten, auf ihren Neuanfang in Palästina vorbereitet, wo sie auch die hebräische Sprache lernten. Von 1933 bis 1941 erreichten etwa 55 000 deutsche Juden Palästina auf diesem Wege.
Das war ihr Glück, denn so konnte sie überleben. Hannah lebte und arbeitete in einem Kubbuz. Sie heiratete dort gleich nach dem Krieg den Kibbuznik Ernst Loszinsky, genannt Loki, der auch aus Deutschland stammte, aus Frankenwinheim in Unterfranken, und bekam mit ihm drei Kinder.
Auch für die zweite Tochter Eva konnten sie die Flucht ins Ausland organisieren, und zwar nach Schweden, wo die Tochter eines Cousins als Lehrerin in einer Schule arbeitete. Später erzählte die damals 15-Jährige, dass dort hauptsächlich deutsch-jüdische Jugendliche aus Berlin unterrichtet wurden und sie wegen ihres pfälzischen Akzents gehänselt wurde. Den legte sie bald ab und so wusste niemand, woher in Deutschland sie kam, sagte sie später. Allerdings wurde die Schule im Jahr darauf geschlossen, weil den Eltern nicht mehr erlaubt wurde, das Schulgeld zu schicken. Eva wurde nach eigenen Angaben „wie ein Paket hin und her geschickt“, in eine neue Schule, die von der jüdischen Gemeinde bezahlt wurde, in ein Camp, wo jüdische Jugendliche darauf vorbereitet wurden, nach Palästina auszuwandern, dann als Kindermädchen in eine Familie und schließlich in eine Ausbildung zur Erzieherin. Immer kümmerten sich jüdische Organisationen um sie.
Mit 20 Jahren heiratete sie 1944 ihren aus Wiesbaden stammenden Mann Otto Schwarz, bekam drei Kinder und lebte bis zu ihrem Tod 2005 in Stockholm.
So wurde auch die zweite Tochter gerettet, doch um den Preis, dass sie als 15-Jährige in die Fremde geschickt wurde. Sie selbst sagte über das Kriegsende 1945: „ Als der Friede kam und ganz Stockholm feierte, saßen mein Mann und ich in unserer kleinen Wohnung und betrauerten unsere Familien. Er wie ich hatten zu viel verloren, unsere Eltern und fast alle Verwandten waren ermordet. Ich denke oft, was wäre gewesen, wenn es Hitler und den Krieg nie gegeben hätte.“
Das dritte Kind Karl-Heinz musste die Deportation nach Gurs miterleben. Er wurde von Frankreich nach La Roche in die Schweiz gerettet, wo er den Krieg überlebte. Das Schweizer Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen wie die Quäker konnten jüdische Kinder dadurch retten, dass sie Kinderheime errichteten, wo sie in Sicherheit leben konnten.
Nach dem Krieg wanderte Karl-Heinz nach Palästina aus, wo er 1947 die aus Breslau stammende Bärbel Tischler heiratete und mit ihr drei Kinder hatte.
Er hebräisierte seinen Namen in Yehuda Tamir und lebte und arbeitete in einem Kibbuz. Er starb 2004. Seine Frau Bracha (Bärbel) lebt heute noch in Israel und wird in diesem Jahr (2016) 90 Jahre alt.
Was sagt uns dieser Stammbaum?
Die Großelterngeneration: Benjamin und Ernestine Tuteur stammte aus der Generation, die 1933 über 80 Jahre alt war. 1940, als die Pfälzer Juden nach Gurs deportiert wurden, waren sie hoch betagt oder lebten schon nicht mehr.
Die Elterngeneration: z.B. Eduard und Mathilde
Sie war 1933 etwa Anfang 50, der jüngste Sohn erst 38 Jahre alt. 1940 gingen sie auf die 60 zu.
Die Kinder: z.B. Hanna und Eva
Sie waren 1933 Schulkinder, 1940 Jugendliche zwischen 15 und 20, ihre jüngsten Cousins 4 und 8 Jahre alt.
Von den sieben Nachkommen der Elterngeneration wurden drei in Auschwitz umgebracht (im Stammbaum rot markiert), zweien gelang es auszuwandern (im Stammbaum grün, blau und violett markiert) und zwei starben schon vorher eines natürlichen Todes, wobei der Witwer von Emma und ihre Tochter Liesel auch dem Holocaust zu Opfer fielen.
Es ist berührend zu sehen, wie die Eltern versuchten, ihre Kinder ins Ausland zu retten. Sie wurden als Jugendliche in die Fremde geschickt. Von der Kindergeneration überlebten die etwas älteren Kinder von Eduard Tuteur und Emma Mayer durch Emigration nach Palästina und Schweden, die Kinder von Ludwig wurden 1942 mit 10 und 6 Jahren umgebracht. Wenn den Eltern die Emigration nach USA gelang wie bei Richard Tuteur, waren alle gerettet. Die schon erwachsenen Kinder von Anna Becker überlebten auch durch rechtzeitige Emigration. Emil Becker nahm seine Mutter Anna zu sich nach Südafrika.
Die überlebenden Kinder folgten insofern einem typischen Muster, als sie früh heirateten und Ehepartner fanden, die auch aus Deutschland stammten und ein ähnliches Schicksal wie sie erlitten hatten. Fast alle haben weitere Nachkommen.
Quellen:
- Michael Tuteur, Tuteur Family History, 3rd edition, Sharon, Massachusetts, 2014
- Roland Paul, Die nach Gurs deportierten pfälzischen Juden, Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde Kaiserslautern 2011 (als CD)
- Roland Paul, „Es war nie Auswanderung, immer nur Flucht.“ Zur Emigration der Juden aus der Pfalz im Dritten Reich, in: Juden in der Provinz, Beiträge zur Geschichte der Juden in der Pfalz zwischen Emanzipation und Vernichtung, Hrsg. Alfred Hans Kuby, S. 147-176
- Oskar Althausen im Gespräch mit Wilhelm Kreuz, Den Holocaust auf abenteuerliche Weise überlebt, in: Juden in der Provinz, Beiträge zur Geschichte der Juden in der Pfalz zwischen Emanzipation und Vernichtung, Hrsg. Alfred Hans Kuby, S. 177-194
- Margot und Hannelore Wicki-Schwarzschild, Als Kinder Auschwitz entkommen, Hg. Erhard Roy Wiehn, Hartung-Gorre Verlag Konstanz 2011
- Stadtarchiv Kaiserslautern, Meldekarten der Familie Eduard Tuteur, Bilder und Lageplan Am Altenhof 8
- Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer
- Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945