Recherche: Randi Abshagen
Anna Charlotte Luise Reis kam am 14.01.1905 in Kaiserslautern als Tochter von Philipp Reis und Anna Reis, geborene Heidrich, zu Welt. Sie besuchte die Volksschule und erziehlte einen guten Abschluss. Nach ihrer Schulzeit half sie im elterlichen Milchgeschäft in der Moltkestraße 22 mit und fuhr die Milch aus. Sie galt als tüchtig und war bei der Kundschaft angesehen und beliebt. 1936 erlitt Anna Reis im Alter von 31 Jahren eine depressive Episode und wurde im Psychiatrischen Krankenhaus Homburg/Saar stationär behandelt. Im gleichen Jahr wurde sie zwangssterilisiert, entsprechend den damaligen Vorschriften für psychisch Kranke.
Zitat aus dem Schreiben des Erbgesundheitsgerichts zu Anna Reis:
Im Namen des Deutschen Volkes
Beschluss
In der Erbgesundheitssache betreffend Anna Reis hat das Erbgesundheitsgericht Saarbrücken in der Sitzung vom 9. Dezember 1936 auf Grund der mündlichen Verhandlung vom gleichen Tage unter Mitwirkung von: Amtsgerichtsrat Dr. jur.XXX als Vorsitzenden, Amtsarzt Medizinalrat Dr. med. XXX und prakt. Arzt Dr. med. XXX als ärztl. Beisitzern beschlossen: Die beruflose Anna Reis aus Kaiserslautern geb. am 14.01.1905 in Kaiserslautern, Tochter der Eheleute Philip Reis und Anna geb Heidrich, gesetzlicher Vertreter der Vater, ist wegen manisch-depr. Irreseins unfruchtbar zu machen. Die Unfruchtbarmachung ist auch gegen ihren Willen auszuführen. Die Kosten des gerichtlichen Verfahrens trägt die Reichskasse. Gründe: Auf Grund der Beweisaufnahme, insbesondere des vorliegenden fachärztlichen Gutachtens, sowie der persönlichen Vernehmung der Unfruchtbarzumachenden ist festgestellt, dass letztere an der in § 1 Abs.2 Ziff. 3 des Gesetzes vom 14.7.1933 genannten Erbkrankheit leidet. Der Antrag gemäss §2 dieses Gesetzes ist von dem zuständigen Amtsarzt in Homburg ordnungsmässig gestellt. Die Diagnose des Sachverständigen, der das Gericht sich anschliesst, ergibt sich aus der durch den Sachverständigen erfolgten klinischen Beobachtung, deren Ergebnisse im einzelnen im Krankenblatt des Landeskrankenhauses in Homburg niedergeschrieben sind. Das Krankenblatt hat dem Gericht zur Einsichtnahme vorgelegen. Ferner wird die Diagnose gestützt auf die ebenfalls vorgelegten Akten des Erbgesundheitsgerichts. Die Kranke leidet seit Mai 1936 an einem typisch manisch-depressiven Schub, der Anstaltsbehandlung erforderlich machte. Sie zeigte sich dabei ängstlich, bekam Weinkrämpfe, äußerte Selbstmordgedanken, hatte Beziehungsideen und fühlte sich verfolgt. (Zitat Ende)
Sieben Jahre später, 1943, erlitt sie erneut einen depressiven Schub. Sie wurde am 30.03.1943 in der Psychiatrischen Klinik Klingenmünster aufgenommen. Kurz darauf erhielten die Eltern die schriftliche Nachricht, Anna Reis sei am 05.04.1943 an Herzschwäche verstorben. Im vorherigen ärztlichen Untersuchungsbefund in ihrer Krankenakte steht zu lesen: „Lungen, Bauchorgane, Herz ohne krankhaften Befund, keine Zeichen von Herzschwäche.“
Aus Veröffentlichungen der Gedenkstätte Klingenmünster geht hervor, dass auch in Klingenmünster mittels Medikamenten gemordet und zur Verschleierung der Verbrechen „natürliche Todesarten“, wie eine Herzschwäche oder eine Lungenentzündung, vorgetäuscht wurden. Weitere Frauen und Männer starben in Folge des so genannten „Hungererlasses“. Der sogenannte Hungererlass besagte für die Heil- und Pflegeanstalten, dass diejenigen Insassen, „die nutzbringende Arbeit leisteten, oder in therapeutischer Behandlung stehen, ferner die noch bildungsfähigen Kinder, die Kriegsbeschädigten zu Lasten der übrigen Patienten besser verpflegt werden“ sollten. Der Hungererlass bot für das vorsätzliche Töten körperlich und geistig behinderter Menschen eine gesetzliche Grundlage. Gerechtfertigt wurde dieses Verhalten unter ökonomischen Gesichtspunkten, die Versorgung unproduktiver Menschen koste den Staat zu viel. Ferner spielte der biologistische Ansatz im Denken der Nationalsozialisten eine große Rolle: Die Bevölkerung wurde als ein gemeinsamer Volkskörper angesehen, den es von unerwünschten Erbanlagen zu reinigen galt.
Der Leichnam von Anna Reis wurde nach Kaiserslautern überführt und ihrem Glauben entsprechend protestantisch beigesetzt. Sie wurde 38 Jahre alt.
Am 10. Juli 2014 wurde in der Molkestraße 22 ein Stolperstein für Anna Reis verlegt.