Ansprache von Roland Paul bei der Verlegung der Stolpersteine für Paul, Charlotte, Carola und Claus Tuteur in der Alleestraße am 29.8.2013
„Ach, meine Eltern, Gott gebe, dass der Tag des Wiedersehens bald komme! Haltet gut zusammen! Jeden Abend bete ich. Und ihr? Wenn wir uns wiedersehen, werde ich schon ein großes Mädchen sein?“
Dies schrieb die 15jährige Carola Tuteur am 9. September 1940 aus einem belgischen Kinderheim an ihre Eltern.
Zu dem erhofften Wiedersehen sollte es nicht mehr kommen. Carola Tuteur wurde 1925 als Tochter des in Kaiserslautern niedergelassenen Rechtsanwalts Dr. Paul Tuteur und seiner aus Landau stammenden Frau Charlotte, geb. Metzger geboren. Mit ihrem jüngeren, 1927 geborenen Bruder Claus wuchs sie in ihrem Elternhaus in der Lauterer Alleestraße 10 auf. Die Kinder besuchten die hiesige Volksschule, Carola kam anschließend in das Institut der Franziskanerinnen, Claus in die Oberrealschule.
1933 hatte für die Tuteurs eine schwere Leidenszeit begonnen, die ihren Höhepunkt in den Novemberpogromen 1938 erreichte. Die Wohnung der Tuteurs hier in der Alleestraße wurde zerstört, Paul Tuteur von Nazischergen misshandelt. Er verlor seine Zulassung als Anwalt. Kurz vor Weihnachten 1938 brachten Paul und Charlotte Tuteur ihre Kinder zur Familie Raymond Wolfers nach La Hulpe bei Brüssel, wo sie sie in Sicherheit glaubten. Ganz in der Nähe lebte damals auch Roger Tuteur, ein Verwandter von Paul Tuteur, der sich bis zu seiner Emigration in die USA auch um die Kinder kümmerte. In La Hulpe besuchten Carola und Claus zusammen mit den Kindern der Familie Wolfers die Schule. Sie galten als sehr begabte Schüler.
Im Sommer 1939 emigrierten die Eltern Tuteur nach England. Von dort aus versuchten sie ihre Kinder zu sich zu holen, was ihnen nicht gelungen ist. Im Mai 1940 überfiel die deutsche Wehrmacht Belgien. Über das weitere Schicksal von Carola und Claus Tuteur war bislang wenig bekannt. Durch Zufall und dank der Vermittlung von Professor Werner Maas kam vor einigen Jahren ein Kontakt zur Familie Wolfers zustande. Dadurch wissen wir, dass Carola und Claus im Sommer 1940 in ein Kinderheim in dem westlich von Brüssel gelegenen Moelenbeek-Saint Jean kamen. Hier schrieb Carola am 9. September 1940 einen Brief an ihre Eltern. Am Ende ihres Briefes schrieb sie:
„Eure Photos begleiten mich immer. Ihr seid so gut drauf, daß man meinen könnte, ihr seid lebendig da. Der Brief muß endigen. Seid nicht traurig, hofft und glaubt. Seid tausendmal umarmt und geküsst und gestreichelt von Eurer Euch liebenden Tochter Carola.“
Neben diesem Brief ist ein Poesiealbum von Carola Tuteur erhalten geblieben, das im vergangenen Jahr von einem belgischen Antiquar zum Kauf angeboten wurde. Wir haben es für die Pfalzbibliothek des Bezirksverbands erworben. Es wird ab dem 12. November in einer Ausstellung in unserer Bibliothek gezeigt und enthält zahlreiche Einträge von Verwandten und Freunden der Geschwister Tuteur, auch von Schwestern des Instituts der Franziskanerinnen, die sich 1938 mit herzlichen Worten von Carola verabschiedeten.
Bis 1943 blieb der Kontakt zwischen Carola und Claus Tuteur und der Familie Wolfers bestehen. In den Sommerferien 1941 und 1942 waren beide wieder in La Hulpe. Damals standen sie noch mit ihrer in Frankfurt am Main lebenden und bald darauf nach Theresienstadt deportierten Großmutter Johanna Metzger in Verbindung. Diese schrieb im August 1942 an ihre Tochter nach London: „Kinder gesund und munter“.
Die Deportation der Juden aus Belgien hatte schon begonnen, da brachte Madame Wolfers Carola und Claus Tuteur um die Jahreswende 1942/43 zu einer Frau, die sich in der Résistance engagiert hatte, nach Vossem bei Brüssel. Hier lebten sie bis Weihnachten 1943 in einem Versteck. Doch die Nazis spürten sie auf und internierten sie in einem Lager in Malines. An Ostern 1944 wurden beide nach Auschwitz deportiert. Dort wurden sie bald darauf ermordet.
1946 kehrten Paul und Charlotte Tuteur aus England in die Pfalz zurück. Die Nachricht vom Tod ihrer Kinder im Konzentrationslager haben sie nie verwunden. Paul Tuteur wurde Landgerichtsdirektor in Kaiserslautern, 1949 wurde er zum Senatspräsidenten ernannt, trat aber bald in den Ruhestand. Er starb 1952 im Alter von 71 Jahren als gebrochener Mann, seine Frau starb 1968. Auf dem jüdischen Friedhof in Kaiserslautern fanden sie ihre letzte Ruhe. Auf ihrem Grabstein wird auch der beiden Kinder gedacht. Unter einem Relief mit zwei dem Himmel zustrebenden Tauben stehen die Worte: „Die Sonne versank, die Kette riß, der Ewige nahm sie zu sich“.