Recherche: Arlene Roeper
2.6.1935. Die Ortsgruppe der NSDAP feiert in der Gastwirtschaft des Bahnheims Kaiserslautern. Jonathan Volk steckt einem gewissen Walter Graf unter dem Tisch eine zusammengefaltete Schrift marxistischen Inhalts zu. Wer ist dieser junge Mann von damals 22 Jahren, der ein solches Risiko eingeht, das ihn gut ein Jahr später in Untersuchungshaft, wiederum ein Jahr später ins Gefängnis Ulm bringt? Das Urteil: Vorbereitung zum Hochverrat. Die Strafe: 1 Jahr und 2 Monate unter Anrechnung von 8 Monaten Untersuchungshaft.
Sein Vater ist Jude, seine Mutter Katholikin. Das Kind wird nicht getauft, wächst religionslos auf. Die Nationalsozialisten wissen um den jüdischen Vater. Es entgeht ihnen aber auch nicht, dass der junge Mann ein charismatischer Redner ist. Sie fragen ihn, ob er nicht die Hitlerjugend unterrichten wolle, er habe dann auch mit keiner der Unannehmlichkeiten zu rechnen, die Juden normalerweise zu gegenwärtigen hätten. Seine Antwort – er stößt den Stuhl weg und sagt: „Eher lasse ich mich umbringen, als für euch zu arbeiten.“
1938 wird er erneut verhaftet. Wiederum lautet das Urteil: Vorbereitung zum Hochverrat. Er wird zu 2 Jahren und 9 Monaten Zuchthausstrafe verurteilt, die er im Strafgefangenenlager Walchum-Ems verbüßen soll, ein Lager, das 1935 gegründet wird, zunächst ausgelegt für 500 Häftlinge, bis 1939 auf eine Kapazität von 1000 Häftlingen erweitert. Die Inhaftierten kommen aus dem gesamten Deutschen Reich. Sie werden zur Kultivierung des links-emsischen Moores eingesetzt. Dazu zählen das Stechen von Torf, die Entwässerung des Geländes sowie Straßen- und Wegebau. Die Gefangenen werden von 200 SA‐ und Justizbeamten bewacht. In Worten: zweihundert. Sie sind im Lager psychischer und körperlicher Misshandlung durch die Wachmannschaften ausgesetzt. Die Verpflegung ist unzureichend. 71 Todesfälle im Lager Walchum sind dokumentiert.
Jonathan Volk wird während seiner Haftzeit gefoltert. Man hängt ihn nackt an seinen Fuß- und Handgelenken auf und peitscht ihn auf seine Fußsohlen und die Geschlechtsteile. Wie durch ein Wunder kann der Vater eine vorzeitige Entlassung erwirken. Am 12.12.1940 endet für seinen Sohn die Haft im Emslandlager Walchum.
Ab Februar 1943 ist Volk bei der Wehrmacht registriert. Bis Oktober 1943 ist er im Einsatz in Griechenland, ab November 1943 wird er zur Organisation Todt abgestellt, einem paramilitärischen Bautrupp aus Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und Häftlingen, der an Luftschutzanlagen, U-Boot-Stützpunkten, Raketenabschussrampen oder auch dem West- und dem Atlantikwall arbeitet. Härteste Arbeit, um einem Regime zu dienen, das man mit all seinen Kräften ablehnt.
Seine Tochter erinnert sich an ihren Vater, der viel geraucht und Kaffee getrunken hat und auf ihre Frage, ob er alles wieder so machen würde in seinem Leben, entwaffnend ehrlich antwortet: „Ich bin nicht sicher, ob ich es nochmal aushalten würde.“
Von seinem Bruder Otto Volk wissen wir, dass Jonathan Volk nach dem Krieg mit Simon Wiesenthal zusammenarbeitet, der sich selbst als „Rechercheur“ bezeichnete auf der „Suche nach Gerechtigkeit für Millionen unschuldig Ermordete“. „Aufklärung ist Abwehr“, sagte der, für den die Shoah nicht mit Massenmord und Gaskammern begonnen hat, sondern mit der Demontage von Demokratie und Menschenrechten.
In der Haft wie später in seinem Leben gibt es ein Lied, das Jonathan Volk begleitet. Er singt es, wenn es ihm schlecht geht. Seine Tochter erzählt, dass er „dabei Tränen in den Augen“ hat. Es ist das Lied der „Moorsoldaten“, das 1933 von Häftlingen des Konzentrationslagers Börgermoor bei Papenburg im Emsland geschaffen worden ist.