Recherche: Daniel Jonietz
Bei der Steinverlegung trug Daniel Jonietz folgenden Text vor:
„Was würdest Du tun, wenn Homosexualität in Deutschland strafbar wäre“?
Diese Frage hat mir eine 16jährige Schülerin bei einem Antidiskriminierungs-Workshop gestellt. Was würde ich tun? Die Frage hat mich irritiert. Denn die Frage ist gar nicht abwegig: Heute – 2015! – werden homosexuelle Handlungen zwischen Männern noch in 7 Ländern mit der Todesstrafe bestraft. In etwa einem Drittel der Länder weltweit ist Homosexualität strafbar. Gesetze wie das neue russische „Gesetz gegen Homosexuellen-Propaganda“, stellt schon die positive Erwähnung von Homosexualität in Anwesenheit von Minderjährigen unter Strafe. Aber in Deutschland? Ist doch alles in Ordnung, oder?
Wilhelm Krüger, 80 Jahre vor mir geboren, wurde 1936 auf Grundlage des § 175 wegen widernatürlicher Unzucht zu 3 Jahren Zuchthaus im Gefangenenlager Aschendorfer Moor verurteilt. Die Ehe mit seiner Frau Elisabeth wurde geschieden, der Kontakt zu den Kindern und zur Familie verwehrt. Im Bekanntenkreis wurde erzählt, Wilhelm sei tot. Wilhelm Krüger galt als jugendgefährdender, widerlicher Verbrecher.
Während des Nationalsozialismus gelten Homosexuelle als krank, aber umerziehbar. Zur Umerziehung wurden im Wesentlichen drei Methoden angewendet:
- Justiz und Strafe zur Abschreckung
- Psychotherapie
- Medizinische Maßnahmen wie Sterilisation, Kastration und Verabreichung von Hormonen zur Entsexualisierung.
Im Gefangenenlager Aschendorfer Moor mussten Häftlinge Torf stechen und im Straßenbau arbeiten. Von den Wachmannschaften wurden sie körperlich und psychisch misshandelt. In seinem Lebenslauf schreibt Wilhelm Krüger auch von psychiatrischen Gutachten – was genau er durchleiden musste, wissen wir nicht.
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Der Paragraph 175 kam 1872 ins preußische Recht:
„Widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts … begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen“
und wurde 1935 von den Nationalsozialisten verschärft:
- Die Höchststrafe wurde auf 5 Jahre heraufgesetzt.
- Das Adjektiv „widernatürlich“ wurde gestrichen, homosexuelle Handlungen mussten nicht länger „beischlafähnlich“ sein um als strafbar zu gelten.
- Es reichte, wenn „objektiv das allgemeine Schamgefühl verletzt und subjektiv die wollüstige Absicht vorhanden war, die Sinneslust eines der beiden Männer oder eines Dritten [zu] erregen“. Eine gegenseitige Berührung war nicht mehr erforderlich. Blicke konnten Verbrechen sein.
Zur Verurteilung zu Gefängnis und Konzentrationslager reichte – wie bei Wilhelm Krüger – der bloße Verdacht.
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Ein gutes halbes Jahr nach der Entlassung aus der Haft notiert Wilhelm Krüger in eines der Tagebücher die er führt, um seinen Kindern als Hinterlassenschaft eine Skizze über sein Leben zu geben, dass er eine Bekanntschaft gemacht und eine anregende Unterhaltung geführt habe: „Über Liebe auf den ersten Blick … Macht mir große Freude jemand um mich zur Gesellschaft zu haben … War sehr nett und anständig .. schöner Mensch! Und anziehend. … Freue mich auf Wiedersehen.“
Dieser Tagebucheintrag und die Beobachtung der Feldpolizei, dass er „mit einer Anzahl von Männern verdächtigen Verkehr unterhalten, der den Verdacht einer gleichgeschlechtlichen Betätigung rechtfertigt“ hat, machen ihn „in sittlicher Hinsicht verdächtig“. und führen zur Überstellung an die Staatspolizeistelle in Neustadt. Dort wird Schutzhaft gegen Wilhelm Krüger „wegen der sexuellen anormalen Veranlagung“ angeordnet:
„Die Vernehmung … hat den Verdacht einer gleichgeschlechtlichen Betätigung zwar nicht eindeutig erbringen können. Es kann jedoch keinem Zweifel unterliegen, dass Krüger nach seiner Entlassung … Gelegenheit zu homosexueller Betätigung gesucht hat. … Seine Freilassung würde eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sittlichkeit … bedeuten. Dass ihm bisher kein strafrechtlich ausreichender Tatbestand nachgewiesen werden konnte, ist lediglich seiner verbrecherischen Gerissenheit zuzuschreiben.“
Kurz darauf wird angeordnet, Wilhelm Krüger aus der Schutzhaft in das Konzentrationslager Sachsenhausen zu überführen, wo er am 13.10.1939 ankommt und die Häftlingsnummer 6562 erhält.
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Über Wilhelm Krügers Zeit in Sachsenhausen wissen wir nicht viel. Im Konzentrationslager Sachsenhausen gilt Homosexualität als ansteckend, und homosexuelle Insassen dürfen keinen Körperkontakt haben – noch nicht einmal die Hand schütteln. Am 5.5.40 wird Wilhelm Krüger erhängt aufgefunden. Seine Familie hat an der Überführung der Leiche oder der Aschenurne kein Interesse.
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Auch im Nachkriegsdeutschland hätte Wilhelm Krüger seine Neigung nicht ausleben dürfen: Der Paragraph 175 wurde in der Fassung von 1935 in die Gesetzgebung der Bundesrepublik übernommen. Eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht wurde zurückgewiesen:
- Gleichgeschlechtliche Betätigung verstoße eindeutig gegen das Sittengesetz.
- Die Bestimmungen des Paragraphen 175 seien weder formal noch inhaltlich nationalsozialistisch geprägt.
- Paragraph 175 verstoße nicht gegen das Grundrecht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit.
Auch in der Bundesrepublik war für den Tatbestand der Unzucht keine körperliche Berührung vorausgesetzt. Zwischen 1950 und 1965 gab es ca 45.000 Verurteilungen. Der Paragraph 175 wurde 1969 und 1973 überarbeitet, und erst 1994 im Rahmen der Wiedervereinigung abgeschafft.
Anders als andere Opfergruppen waren Homosexuelle Opfer des Nationalsozialismus auch in Deutschland auch aus dem öffentlichen Gedenken und von Entschädigung ausgegrenzt. Erst 2002 wurden Männer, die vor NS-Gerichten als Homosexuelle verurteilt worden waren, vom Bundestag juristisch rehabilitiert.
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Wilhelm Krüger hat nicht nur unter der Strafverfolgung gelitten, sondern auch unter der Ablehnung in der eigenen Familie. Im Fall Wilhelm Krügers hat die Ablehnung bis 75 Jahre nach seinem Tod angehalten.
Auch wenn heute in vielen Ländern Homosexualität nicht nur straffrei, sondern in 22 Ländern die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet wurde, erfahren Schwule, Lesben, Bi- und Trans-Menschen immer noch Ablehnung in Familie und Gesellschaft. Auch heute noch werden in Deutschland Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert und beschimpft. Auch heute gibt es in Deutschland Gruppierungen (wie die besorgten Eltern) die beispielsweise die Thematisierung von Akzeptanz sexueller Vielfalt in Schulen verhindern wollen. Auch heute noch sind in Deutschland gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften heterosexuellen Ehen nicht gleichgestellt.
Der Stolperstein „Wilhelm Krüger“ ist somit nicht nur Gedenkstein, sondern muss uns in besonderem Maße dazu aufrufen, die Arbeit für Akzeptanz und gegen Diskriminierung — in Deutschland und weltweit — aktiv fortzusetzen.